Das Rheinische Landestheater zeigt

Die Ratten

 

HARRO HASSENREUTER,
ehemaliger Theaterdirektor
- Carl-Ludwig Weinknecht
SEINE FRAU - Hergard Engert
WALBURGA, seine Tochter - Anna Sonnenschein
ERICH SPITTA, Kandidat der Theologie - Philippe Ledun
ALICE RÜTTERBUSCH, Schauspielerin - Juliane Pempelfort
NATHANAEL JETTEL, Hofschauspieler - Benjamin Schardt
KÄFERSTEIN, Schüler Hassenreuters - Benjamin Schardt
DR. KEGEL, Schüler Hassenreuters - Frank Kurella
JOHN, Maurerpolier - Ulrich Rechenbach
FRAU JOHN - Katrin Hauptmann
BRUNO MECHELKE, ihr Bruder - Stefan Schleue
PAULINE PIPERKARCKA, Dienstmädchen - Anna Lisa Grebe
FRAU SIDONIE KNOBBE  - Juliane Pempelfort
SELMA, ihre Tochter - Nelly Politt
QUAQUARO, Hausmeister - Hergard Engert
Drehorgelspieler - Jonas Prokopf

Inszenierung - Tom Gerber
Bühne und Kostüme - Tom Gerber
Musikeinspielungen - Janik Meier
Video - RPP
Dramaturgie - Eva Veiders
TheaterAktiv - Robert Hüttinger
Regieassistenz - Pia Nüchterlein
Regiehospitanz - Jonas Prokopf
Soufflage - Veronika Schepping
Inspizienz - Philip Dreher/ Stefan M.H. Weiß
 

Veranstaltungstechnik David Kreuzberg (Technischer Leiter/Beleuchtungsmeister), Claudia Kurras (stellv. Technische Leiterin/Bühnenmeisterin), Nikolaus Vögele (Beleuchtungsmeister), Fredo Helmert (Leiter der Tonabteilung), Lutz Patten (Assistent der technischen Leitung), Reinhold van Betteraey, Jens Gerhard, Markus Hermes, Ivan Hristov (Medientechnik/IT), Erhad Kovacevic, Daniel Marx, Maik Neumann, Stefan Ostermann, Katrin Otte, Lutz Schalla, Matthias Schöning, Michael Skrzypek, Til Topeit, Oliver Waldhausen, Peter Zwinger Auszubildende Nour al Hamdan, Leona Kittlaus, Malte Meuter, Tim Rettig, Elias Triebel Werkstätten Schreinerei/Schlosserei Engelbert Rieksmeier (Werkstättenleiter), Lutz Meuthen, Jorge Denis Corrales Mora, Jonas Henke, Peter Herbrand, Johannes Selzner Auszubildende Werkstätten Mitja Hennig, Justin Simon, Aaron Czirr Malsaal Sarah Durry (Leiterin Malsaal), Natalie Brüggenolte (in Elternzeit), Laura Conigliello, Dmytro Fedorovic Zhdankin, Luna Warnke, Maria Felicia Montemurro Gewandmeisterei Alide Büld (Leiterin der Kostümabteilung), Waldemar Klein (Leiter der Herrenabteilung, Herrenschneidermeister), Ute Dropalla (Garderobiere), Pauline Gez (Garderobiere), Susanne Groß, Maria Knop, Alina Listau, Anna Listau, Sophia Meuser Maske Marthe von Häring (Leiterin der Maske), Marleen Fee Hackenberg, Laura Rösch Requisite Birgit Drawer (1. Requisiteurin), Lara Maury

Probenfotos Marco Piecuch Plakatfoto Simon Hegenberg

Alle Texte sind, sofern nicht anders markiert, Originalbeiträge von Eva Veiders.

Bitte beachten Sie, dass Ton- und Bildaufnahmen aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet sind.

Spieldauer ca. 3 Stunden inklusive Pause

Premiere 21 MAI 2022, Schauspielhaus

 

Harro Hassenreuter hat schon bessere Zeiten gesehen. Einst war er Theaterdirektor in Straßburg. Den Fundus durfte er von dort mitnehmen; Kostüme, Masken und Requisiten sind nun in einer heruntergekommenen Berliner Mietskaserne gelandet. Auf Anfrage verleiht er Teile daraus. Er gibt  Schauspielunterricht, er trifft sich mit seiner Geliebten. Dabei ist Harro Hassenreuter ein Mann von Welt und Bildung, unschwer an den vielfältigen lateinischen Redewendungen zu erkennen, die er in die Gespräche einzustreuen weiß. Getragen von der nicht unbegründeten Hoffnung auf ein großes Comeback, lehrt er seine Schauspielschüler nicht nur, nach Goethes „Regeln für Schauspieler“ die Chöre aus Schillers „Braut von Messina“ zu rezitieren, sondern auch die notwendig damit einhergehende Kunstauffassung des Idealismus. Leider wollen sich nicht alle Schüler geistig erwecken lassen. Insbesondere Pastorensohn Erich Spitta muckt mit neumodischen Argumenten dagegen auf und tritt für einen Naturalismus ein, der den inneren Konflikt und das menschliche Schicksal ins Zentrum stellen soll – und der unübersehbar an die schriftstellerischen Überzeugungen Gerhart Hauptmanns erinnert. Eben jener Spitta unterhält außerdem ein Verhältnis mit Hassenreuters Tochter Walburga. Beide sind bereit, für ihre Ansichten und ihre Liebe mit der Elterngeneration zu brechen.

Und während diese Figuren damit beschäftigt sind, ihr eigenes mehr oder weniger forderndes Schicksal zu bewältigen, nehmen sie am Rande die Ereignisse um Henriette John wahr. Diese ist Reinemachfrau und in dieser Funktion verantwortlich für die Instandhaltung von Hassenreuters Fundus. Man kennt sich, man wechselt immer mal wieder ein paar Worte miteinander.

Kinder haben diese Henriette John und ihr Mann nicht, seit ihnen vor ein paar Jahren ein Kind im Säuglingsalter verstorben ist; dafür ist die Sehnsucht nach Nachwuchs umso größer. Während Paul John als Maurerpolier regelmäßig in Altona auf Montage ist, hält seine Frau vor Ort die Stellung, verleiht Geld, putzt für die feineren Leute, und gibt, so gut es geht, auf ihren Bruder Bruno acht, der einen Hang zum Kriminellen hat. Sie hat ihn selbst großgezogen. Kurzum: Wer Probleme hat, dem hilft die John. So auch dem polnischen Dienstmädchen Pauline Piperkarcka, das ungewollt schwanger ist und vor lauter Verzweiflung mit dem Gedanken spielt, sich im Landwehrkanal zu ertränken.

Aber die John nimmt das Kind der Piperkarcka. Sie bekommt dafür 123 Mark, die John gibt es als ihr eigenes aus und alles scheint geregelt. Besonders Herr John ist über den Nachwuchs hocherfreut, sein Familiensinn scheint neu belebt. Doch dann plagt Pauline das Gewissen. Sie wünscht, das Kind zu sehen. Als sich dann noch herausstellt, dass Pauline das Kind auf dem Amt als das ihre gemeldet hat, gerät Frau John unter Druck. Mehr und mehr steigt sie aus der Realität aus und glaubt immer fester, die Mutter dieses Kindes zu sein.

Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Spitta, die Familie Hassenreuter und ihresgleichen verfolgen die Geschehnisse mit der ihnen zur Verfügung stehenden relativen Anteilnahme aus der Perspektive der Aufgeklärten, der Gebildeten.  Die Deutung der Situation lassen sie sich nicht nehmen. In den meisten Fällen liegen sie dabei vollkommen daneben. Sie merken es nur nicht.

Wer war Gerhart Hauptmann?

Gerhart Johann Robert Hauptmann wurde am 15. November 1862 im schlesischen Ober- Salzbrunn als jüngstes von vier Kindern geboren. Hauptmann war kein sonderlich guter Schüler. Früh ließ er sich vom Theater faszinieren, sah Shakespeare, Kleist und Schiller und fand in einer Aufführung von Cervantes „Don Quichote“ einen Satz, der ihm in gewisser Weise zum Leitspruch geriet: „Nimm Kraft aus deiner Schwäche.“

Bevor Hauptmann die Schriftsteller-Laufbahn einschlug, versuchte er sich als Bildhauer, studierte Literaturgeschichte, Philosophie, Landwirtschaftslehre und brach alles, was er angefangen hatte, wieder ab.

1887 gelang ihm die viel beachtete Erzählung „Bahnwärter Thiel“. Seine Vorbilder hießen Büchner, Ibsen und Tolstoi. Ermutigt von der positiven Resonanz zog er mit seiner ersten Frau Marie (Hauptmann war zweimal verheiratet) nach Berlin Charlottenburg und verfasste dort 1889 sein erstes Drama „Vor Sonnenaufgang“, das er selbst als „soziales Drama“ betitelte. Neu und auffällig war die provokative Wahl neuer Themen: Es ging um Sittenverfall, Alkoholismus und Dekadenz der Neureichen. Und das Stück machte Hauptmann wider Erwarten berühmt. Noch berühmter und beinahe berüchtigt wurde er wenige Jahre später weit über die Landesgrenzen hinaus mit dem skandalträchtigen Stück „Die Weber“, das den schlesischen Weberaufstand von 1844 zum Thema machte, so den Zorn Kaiser Wilhelms II. erregte und zu einem Verbot durch die Zensurbehörde führte.

In dieser Zeit festigte sich Hauptmanns Ruf als politischer Opponent. Trotzdem oder gerade deshalb erhielt er 1912, ein Jahr nach der Uraufführung von „Die Ratten“ im Berliner Lessing-Theater, den Literatur-Nobelpreis; zweifellos der Höhepunkt seiner Karriere.

Hauptmann war ein fleißiger Vielschreiber. 50 Dramen und 71 Dramenfragmente sind überliefert. In seiner Arbeit stütze er sich oftmals auf wahre Begebenheiten, Orte und Personen, auch aus seiner eigenen Biografie. Er recherchierte  gründlich, zog Sekundärliteratur zu Rate und dokumentierte akribisch seine Ideen und Schreibprozesse. So ist beispielsweise die Arbeit an „Die Ratten“ beinahe lückenlos handschriftlich dokumentiert.

In den 1920er Jahren erntete Hauptmann die Früchte seiner Anstrengungen. Zu seiner Enttäuschung konnte er an diese Erfolge nicht wirklich nach der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten anknüpfen. Einerseits versuchte das NS-Regime, dem der bis dato erfolgreiche Dichter als Aushängeschild galt, ihn für seine Zwecke zu nutzen. Gleichzeitig war gerade das Frühwerk, das bis heute vor allem seinen literarischen Ruhm begründet, mit seinen schwächlichen Charakteren und seinen sozialkritischen Tönen suspekt. Hauptmann wurde wohl nicht ganz zu Unrecht oft vorgeworfen, sich hier nicht klar positioniert zu haben.

Er selbst, der einst als Repräsentant der jungen Republik gegolten hatte, sah sich als unpolitischen Dichter, nicht als Revolutionär. Sein Wunsch war es, als der letzte Klassiker, als ein „Nachfolger Goethes“ wahrgenommen zu werden.

Thomas Mann nannte ihn 1922 mit Blick auf sein Frühwerk „den mitleidigen Dichter“. Hauptmanns Idee eines spezifischen Naturalismus, dem es nicht darum geht, die Wirklichkeit eins zu eins abzubilden, sondern, der darauf zielt, die inneren Konflikte der Menschen – und zwar aller Menschen – in den Blick zu nehmen und dafür die klassische Handlungsführung zu vernachlässigen, formuliert Erich Spitta in „Die Ratten“. Wahrscheinlich ist es vor allem dieser Gedanke, der eine Zäsur im Bühnenschreiben markiert, die mit dem sozialen Drama bis in unsere Gegenwart wirkt. Und wahrscheinlich ist diese Idee der Grund, warum „Die Ratten“ auch 111 Jahre nach ihrem Erscheinen noch so viel subversive Kraft freisetzen. Welche politischen Konsequenzen daraus folgen sollten, verrät uns Hauptmann nicht. Wir können selbst unsere Schlüsse ziehen.

Tom Gerber, in Brandenburg/ Havel geboren, absolvierte sein Schauspielstudium in Rostock. Nach einigen festen Engagements an verschiedenen deutschen Theatern, Gastverträgen in Holland, Schottland und Italien sowie Arbeiten als Sprecher, Coach und Schauspiellehrer, führt er seit 1993 auch regelmäßig Regie. In den Spielzeiten 2014/ 2015 bis 2018/ 2019 sowie seit 2020/ 2021 war und ist er festes Ensemblemitglied am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, wo er zuletzt die Titelrolle in Schillers „Wallenstein“ spielte. Am Rheinischen Landestheater waren bis jetzt Tom Gerbers Inszenierungen von „Faust@WhiteBoxX“, „Vor dem Entschwinden“, „Shakespeare´s Love but Marriage“ und „Vor Sonnenaufgang“ zu erleben.

Was ist für dich persönlich das Besondere an Hauptmanns Stück „Die Ratten“?

Die Verbindung zwischen der komischen und der tragischen Theaterebene ist für mich ein unglaubliches Modell, das bis heute in unsere moderne Zeit hinein gültig geblieben ist.

Dazu kommen die sehr tief gezeichneten Figuren. Auch wenn wir ein paar Striche gemacht haben: Letzten Endes finde ich keine überflüssig.  Je mehr wir uns in das Stück reingearbeitet haben, desto deutlicher wurde die Brillanz, mit der Hauptmann das komponiert hat. Das zeigt sich dann manchmal erst beim lauten Sprechen. Ein Beispiel: Hauptmann lässt die Figur Quaquaro ganz lange fast stumm auf einer Szene. Später taucht sie wieder auf, ist auf einmal für die Handlung total wichtig und verantwortet einen krassen Perspektivwechsel. An so etwas hab ich großen Spaß.

Und drittens – natürlich die Sprache.
 

Welche Bedeutung hat denn Sprache im Stück?

Wenn man davon ausgeht, dass es Hauptmann darum ging, dem Volk „aufs Maul zu schauen“, beschreibt er mittels der sprachlichen Gestaltung ein Milieu, das auch heute noch so zu finden ist. Auch wir sind heute zu dem fragwürdigen Reichtum der sogenannten „Kanak Sprak“ gekommen – wie auch immer man das findet – solch ein „Crossover“ der Sprachen gab es ja schon immer, auch zu Hauptmanns Zeiten. Die John-Ebene und die Hassenreuter-Ebene stehen durch die sprachliche Abgrenzung nebeneinander. Es gelingt Hauptmann, das Prekariat sprachlich zu zeichnen und das schöngeistige Bildungsbürgertum, das um keinen Deut besser lebt, daneben zu stellen. Komplettiert wird das Ensemble sprachlich dann auch noch durch Figuren wie zum Beispiel die Wiener Schauspielerin Alice Rütterbusch – und durch diese Bandbreite wird das Babylonische und damit auch das fundamental Missverständliche sehr schön deutlich.

Nach welchen Kriterien hast du die Fassung erstellt?

Hauptmann gibt den Figuren insgesamt relativ lange Repliken. Das sind wir so heute hinsichtlich unserer Aufmerksamkeitsspanne gar nicht mehr gewöhnt. Auch sind unsere Spieltechniken etwas weiter, viele der beschreibenden Vorgänge braucht es nicht, weil wir sie darstellen können.

Insbesondere für den Komödienteil war mir Tempo in der Erzählweise wichtig Ungekürzt würde ein Abend wie „Die Ratten“ locker auf fünf Stunden kommen – ich finde, da sind wir gut dabei.

Einige Spieler*innen spielen mehrere Rollen –welche Überlegungen stehen hinter den Doppelbesetzungen?

Wenn ein*e Spieler*in eine weniger zentrale Rolle hat, finde ich das ein probates Mittel, eine zweite Figur dazu zu geben – im besten Fall erzeugt das eine sichtbar reizvolle Spannung.

In dieser Inszenierung gibt es eine Frauenfigur kombiniert mit einer Hosenrolle oder auch eine Figur wie Käferstein, die aus mehreren anderen Figuren zusammengestrichen ist und deren Beiträge so heutiger als im Original wirken.

Ebenfalls spannend finde ich die Verbindung zwischen Sidonie Knobbe und Alice Rütterbusch. Juliane Pempelfort spielt hier zweimal ein Schauspielerin, die aber jeweils eine völlig andere Welt bewohnt, einmal diese Kunstwelt und dann die des tiefsten Prekariats.

Ratten und Gespenster – wie gehst du mit diesen quasi expressionistischen Motiven in deiner Inszenierung um?

Ich hab mich bemüht, sowohl in der Inszenierung als auch in der Ausstattung dem Expressionismus zu dienen – insbesondere, was das Kostüm betrifft. Gerade der sogenannten Gespensterwelt habe ich versucht, mit möglichst einfachen Theatermitteln beizukommen, denn letzten Endes ist das Stück eben auch ein Stück über Erzählweisen am Theater. Mir war es wichtig diese Bild werden zu lassen, und zwar mit Mitteln, die es möglicherweise auch schon in den 1910er Jahren gegeben haben mag.

Ergibt sich aus dem Wissen um den Hauptmannschen Naturalismus die Verpflichtung einer besonders wirklichkeitstreuen Darstellung?

Für mich ergibt sich eher die gegenteilige Verpflichtung. Hauptmann wollte ja sprachlich so was wie einen normalen Ton. Der ist seit der Erfindung des Fernsehens und der Funkmedien egalisiert worden. Daher lag mein Augenmerk eher in der Repräsentanz, eher in der Suche nach dem, was sich Hassenreuter vorstellt: einen gepflegten Ton, Rhetorik, eine Sprachbehandlung, die der Literatur gerecht wird, ohne dass sie elitär wird.

Unsere Gegenwart ist eher von einem Verkommen der Sprache bestimmt.

Untersuchungen zeigen, dass der aktive Wortschatz im Durchschnitt in den letzten Jahrzehnten signifikant abgenommen hat. Mir war wichtig, dass eher zu unterstreichen, allerdings ohne den Naturalismus, den Hauptmann vertritt, auf der Bühne in Frage zu stellen.

Das Tolle ist ja, dass viele Kolleg*innen eben auch in der Lage sind, diesen hohen Ton auf der Bühne von einem wahren Gefühl beglaubigen zu lassen.
 

Foto: Simon Hegenberg

Die Angeklagte ist die Frau des Garderobiers M. in Rummelsburg. Die 1903 geschlossene Ehe blieb kinderlos. Als M. eines Abends aus seinem Dienst kam, fand er neben dem Bett seiner Frau in einem Korbe ein schreiendes Baby, welches sich als der sehnlichst erwartete Familienzuwachs

herausstellte. In Wirklichkeit hatte es die Angeklagte schon monatelang vorher verstanden, einen gewissen Zustand vorzutäuschen, und hatte dann das Kind eines Dienstmädchens B. als ihr eigenes ausgegeben, ohne zu wissen, daß dieses schon in der Person des Lehrers Mudra in Rummelsburg

einen Vormund erhalten hatte. Dieser zog Erkundigungen über den Verbleib des Kindes ein und erschien eines Tages in der Wohnung der Angeklagten. Diese schwebte von nun an in ständiger Furcht, daß die Sache entdeckt würde, und faßte einen abenteuerlichen Plan. Sie näherte sich einer Frau Engel, die ein etwa gleichaltriges Kind besaß, und machte sich mit ihr bekannt. Die Absicht der

Angeklagten ging dahin, das Kind der E. zu rauben und dieses dann dem Vormund als das Kind des Dienstmädchens B. zu überbringen, Während Frau E. eines Tages ihrem Manne Essen nach seiner Arbeitsstätte trug, erschien die Angeklagte in deren Wohnung. Unter einem Vorwande schickte sie die beiden ältesten Söhne fort, die das kleine Kind beaufsichtigten, und eignete es sich an. Als Frau E. später nach Hause kam, vermißte sie sofort ihr Kind und schlug Lärm. Die Nachricht von dem Kindesraub verbreitete sich schnell in Rummelsburg, und bald belagerte eine Menschenmenge das Haus der Engel, die in ihrer Aufregung über den Verlust des Kindes völlig kopflos geworden

war. Die Angeklagte hatte inzwischen das geraubte Kind in der Wohnung des Lehrers abgegeben, nachdem sie ihm einen Zettel um den Hals gehängt hatte, auf dem angegeben war, es wäre dies das Kind des Dienstmädchens. Als Frau E. die Angeklagte beschuldigte, diese hätte ihr das Kind geraubt, zeigte diese ihr das wirkliche Kind des Dienstmädchens und erklärte, sie habe an ihrem eigenen genug. Die „verwickelte Angelegenheit“ wurde noch an demselben Tage von der Berliner Kriminalpolizei aufgeklärt, die den doppelten Kindestausch vornahm. Das erstunterschobene Kind der B. wurde später den M’schen Eheleuten wieder überlassen, die mit großer Liebe an ihm hängen. Vor Gericht war die Angeklagte geständig und beteuerte unter einem nicht endenwollenden Tränenstrom, sie habe nichts Schlechtes gewollt [- . .]. Das Urteil lautete auf eine Woche Gefängnis.

 

(Aus dem Gerichtsbericht des Berliner Lokalanzeigers vom 13. Februar 1907)
 

GEORG HEYM
Die Stadt
 
Sehr weit ist diese Nacht. Und Wolkenschein
Zerreißet vor des Mondes Untergang.
Und tausend Fenster stehn die Nacht entlang
Und blinzeln mit den Lidern, rot und klein.
Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt,
Unzählig Menschen schwemmen aus und ein.
Und ewig stumpfer Ton von stumpfem Sein
Eintönig kommt heraus in Stille matt.
Gebären, Tod, gewirktes Einerlei,
Lallen der Wehen, langer Sterbeschrei,
Im blinden Wechsel geht es dumpf vorbei.

Und Schein und Feuer, Fackeln rot und Brand,
Die drohn im Weiten mit gezückter Hand
Und scheinen hoch von dunkler Wolkenwand.
(1911)
 
GOTTFRIED BENN
Schöne Jugend

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!
(1912)

GEORG TRAKL
Die Ratten
 
In Hof scheint weiß der herbstliche Mond.
Vom Dachrand fallen phantastische Schatten.
Ein Schweigen in leeren Fenstern wohnt;
Da tauchen leise herauf die Ratten
 
Und huschen pfeifend hier und dort
Und ein gräulicher Dunsthauch wittert
Ihnen nach aus dem Abort,
Den geisterhaft der Mondschein durchzittert
 
Und sie keifen vor Gier wie toll
Und erfüllen Haus und Scheunen,
Die von Korn und Früchten voll.
Eisige Winde im Dunkel greinen.

„Die Ratten“ – hier wird eine tragische Geschichte wird mit einer heiteren verwoben. Alle Figuren sind dem sogenannten „echten Leben“ abgeschaut, alles Einzelschicksale. Und doch wird deutlich: Hier geht es um eine gespaltene Gesellschaft, in der das Bildungsbürgertum die Deutungshoheit über die Probleme des Proletariats mit scheinbarer Anteilnahme für sich beansprucht, letztlich ohne ein echtes Interesse oder Verständnis für die Nöte der Nicht-Privilegierten zu entwickeln. Vielleicht auch, weil die Einschläge ohnehin zu heftig sind. Es geht um nicht weniger als Vernachlässigung, Gewalt und sogar Mord. Was soll man dazu sagen?

Doch obwohl hier ein durch und durch privates Milieu fokussiert wird: Die Dramen stehen in einem sozialpolitischen Zusammenhang. Es ist eine kaputte Gesellschaft, in der Nationalismus als zentraler Wert gehandelt wird (wie immer wieder durch die Beiträge der „Hassenreuter“ - Figur dokumentiert), ein Nationalismus, der die angebliche Überlegenheit des deutschen Bildungsidealismus zur ausschließlichen Maxime stilisiert.

Dieser fast schon salonfähig klingende Nationalismus ist die Grundierung der gesamten Erzählung – und verlangt, wenn man ihn nicht in seiner scheinbaren Harmlosigkeit belassen will, nach einem Verweis auf seinen historischen Hintergrund. Dieser spiegelt sich beispielsweise auf der Ausstattungsebene in dem streng in den Farben des Deutschen Reichs gehaltenen Kostümbilds. Alle sind Teil des großen Ganzen. Alle sind Symptom.

Seine Gefährlichkeit bezieht der Nationalismus des Kaiserreichs jedoch nicht zuletzt aus der deutschen Kolonialpolitik, die ab 1884 betrieben wurde, (das Stück spielt 1885). Um deutlich zu sein: Betrieben in Form rassistischer Verbrechen und damit einhergehend verharmlosender rassistischer Propaganda und Missionsanstrengungen. Diesem Zusammenhang, der für die Figuren im Stück eigentlich keine Rolle spielt, entspringt das Requisit der sogenannten „Missions-Spardose“. Die verstörende Beiläufigkeit, mit der sie bespielt wird, dokumentiert, wie wenig sich die Figuren über alles, was über ihre Welt hinausgeht, bewusst sind. Für sie ist der Rassismus, der durch die Spardose in ihre Welt schwappt, unsichtbar. Doch letztlich gilt auch hier: Alle sind Teil des großen Ganzen.

Gerhart Hauptmann, der als „unpolitischer Schriftsteller“ wahrgenommen werden wollte, hätte diesen inszenatorischen Setzungen möglicherweise nicht viel abgewinnen können. In Zeiten, in denen sich nicht nur in Europa ein deutlicher Rückwärtstrend zu einem als überwunden geglaubten nationalistischem Denken abzeichnet, das in dem Willen zur Ausgrenzung und Unterdrückung erneut seinen Ausdruck sucht, wäre es aber mindestens naiv, den historischen Kontext der Zeit, in der das Stück spielt, zu unterschlagen. Parallelen zum heute zu ziehen, auch unsichtbare Mechanismen von Unterdrückung zu erkennen und zu bekämpfen, ist wahrscheinlich eine der dringendsten Aufgaben unserer Zeit. Denn ob wir wollen oder nicht: Auch wir sind ein Teil davon.

Anna-Lisa Grebe, Katrin Hauptmann
Ulrich Rechenbach, Nelly Politt
Benjamin Schardt, Frank Kurella, Carl-Ludwig Weinknecht, Ulrich Rechenbach, Hergard Engert, Katrin Hauptmann
Katrin Hauptmann, Philippe Ledun, Anna Sonnenschein
Jonas Prokopf, Katrin Hauptmann
Anna Sonnenschein, Nelly Politt, Carl-Ludwig Weinknecht, Benjamin Schardt, Philippe Ledun, Frank Kurella
Carl-Ludwig Weinknecht, Benjamin Schardt, Philippe Ledun, Frank Kurella
Juliane Pempelfort
Nelly Politt, Ulrich Rechenbach
Katrin Hauptman, Ulrich Rechenbach
Katrin Hauptmann, Stefan Schleue
Katrin Hauptmann

 

 

 

 

 

 

 

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