LICHTER DER GROßSTADT

nach dem Film von Charlie Chaplin

 

Tramp Johannes Bauer
Millionär/Winterkönig Niklas Maienschein/Antonia Schirmeister
Blumenmädchen Anna Lisa Grebe
Schergen Pasquale Aprigliano, Regita Bukyte/Markus Wegner, Max Hoffmann, Naomi Küsters/Erol Lukovic, Tolga Sahinoglu
Live-Musik Hajo Wiesemann/Laia Genc (Flügel), Christoph König (Violine)

Inszenierung Caroline Stolz, Antonia Schirmeister
Bühne Engelbert Rieksmeier, Jonas Henke
Maskenbau Jonas Henke, Sarah Wissner, Marthe von Häring, Laura Conigliello
Kostüme Alide Büld
Komposition und Musik Hajo Wiesemann, Christoph König
Künstlerische Betreuung der Maskenarbeit Sarah Wissner
Kampfchoreographie Erol Lukovic (Fightholics Amarit e.V. Neuss)
Dramaturgie Alexander Olbrich
TheaterAktiv Katja König

Regieassistenz/Abendspielleitung Markus Wegner
Inspizienz Philip Dreher

Spieldauer ca. 80 Minuten
Premiere 27 APR 2022, Schauspielhaus
Aufführungsrechte CITY LIGHTS © Roy Export S.A.S.
Charlie ChaplinTM is a trademark and/or service mark of Bubbles Inc. SA, used with permission.

Veranstaltungstechnik David Kreuzberg (Technischer Leiter/Beleuchtungsmeister), Claudia Kurras (stellv. Technische Leiterin/Bühnenmeisterin), Nikolaus Vögele (Beleuchtungsmeister), Fredo Helmert (Leiter der Tonabteilung), Lutz Patten (Assistent der technischen Leitung), Reinhold van Betteraey, Jens Gerhard, Markus Hermes, Ivan Hristov (Medientechnik/IT), Erhad Kovacevic, Daniel Marx, Maik Neumann, Stefan Ostermann, Katrin Otte, Lutz Schalla, Matthias Schöning, Michael Skrzypek, Til Topeit, Oliver Waldhausen, Peter Zwinger Auszubildende Nour al Hamdan, Leona Kittlaus, Malte Meuter, Tim Rettig, Elias Triebel Werkstätten Schreinerei/Schlosserei Engelbert Rieksmeier (Werkstättenleiter), Lutz Meuthen, Jorge Denis Corrales Mora, Jonas Henke, Peter Herbrand, Johannes Selzner Auszubildende Werkstätten Mitja Hennig, Justin Simon, Aaron Czirr Malsaal Sarah Durry (Leiterin Malsaal), Natalie Brüggenolte (in Elternzeit), Laura Conigliello, Dmytro Fedorovic Zhdankin, Luna Warnke, Maria Felicia Montemurro Gewandmeisterei Alide Büld (Leiterin der Kostümabteilung), Waldemar Klein (Leiter der Herrenabteilung, Herrenschneidermeister), Ute Dropalla (Garderobiere), Pauline Gez (Garderobiere), Susanne Groß, Maria Knop, Alina Listau, Anna Listau, Sophia Meuser Maske Marthe von Häring (Leiterin der Maske), Marleen Fee Hackenberg, Laura Rösch Requisite Birgit Drawer (1. Requisiteurin), Lara Maury

Probenfotos Marco Piecuch Plakatfoto Simon Hegenberg
Chaplin-Fotos Roy Export S.A.S.

Alle Texte sind, sofern nicht anders markiert, Originalbeiträge von Alexander Olbrich.

Bitte beachten Sie, dass Ton- und Bildaufnahmen aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet sind.

Der Tramp, ein armer Landstreicher, kommt in eine winterliche Schneelandschaft und verliebt sich dort in ein blindes Mädchen, das auf der Straße Blumen verkauft. Um ihr eine teure Augen-OP zu finanzieren, verdingt sich der Landstreicher in den verschiedensten Berufen. Doch die Welt ist tückisch und so kriegt er trotz abenteuerlicher Manöver nicht genug Geld zusammen. Noch dazu tritt ein geheimnisvoller Winterkönig auf, der eine schlagkräftige Schergen-Truppe befehligt, und die aufkeimenden Gefühle der beiden stört, da er in seiner Welt keine frühlingshaften Regungen duldet. Als der Tramp wiederum einen betrunkenen Millionär vom Selbstmord abhält und der ihn daraufhin zu seinem besten Freund erklärt, könnte sich das Kräftegleichgewicht verschieben. Dessen exzentrischer Charakter verursacht allerdings so viele Turbulenzen, dass unser Held schließlich alles auf eine Karte setzen muss, um seiner Liebsten zu helfen …

Geboren 1889 in London als Sohn zweier Schauspieler, feierte Charlie Chaplin bereits in jungen Jahren erste Bühnenerfolge – seiner mehr als problematischen Kindheit zum Trotz. Er wächst in Armut und teils in Waisenhäusern auf, weil die Mutter in psychiatrische Kliniken muss. Sein Vater ist Alkoholiker und stirbt, als er 12 Jahre alt ist. Er treibt sich notgedrungen viel auf der Straße herum, kann kaum zur Schule gehen und muss als Zeitungsjunge und Laufbursche arbeiten. Seine Schullaufbahn endet bereits im Alter von 13 Jahren. Als Kind bleibt er lange Analphabet und wird höchstens mit der Bildung eines Viertklässlers in die Welt entlassen. Zeit seines Lebens ist dieses Genie der Körpersprache Legastheniker. Die sozialkritischen Töne sind seinem Leben und seiner Kunst ganz natürlich eingeschrieben, ohne „linkes Gehabe“ nötig zu haben. Er kennt die untersten ebenso wie – später dann – die obersten Milieus und kann dadurch zu einer Identifikation für Menschen aller Schichten auf der ganzen Welt werden. Sein Tramp ist – mal übermütig, mal verschlagen, aber immer mit dem Herz am rechten Fleck – ein Harlekin der „modernen Zeiten“ und Chaplin wird durch ihn zum ersten Weltstar des Kinos. Er wird zur Pop-Ikone einer ganzen Generation: Chaplin gibt es schon ab Mitte der 1910er Jahre als Figürchen, Puzzle, Comics und Salzstreuer. Songs werden über seinen berühmten Entengang, den Chaplin-Walk, geschrieben. Durch unzählige Merchandise-Produkte wird so eine ganze Marketingindustrie um ihn aufgebaut. Auch heute noch kennt fast jeder die ikonische Figur des Tramp, ohne vielleicht je einen Chaplin-Film gesehen zu haben geschweige denn zu wissen, wie der ohne seine charakteristischen Attribute ausgesehen hat. (Um das Rätsel zu lösen: Siehe unten.)

Jenen Landstreicher, mit der Offenheit und Naivität eines Kindes sowie den Manieren und der Würde eines Gentleman, entwickelte Chaplin im Jahr 1914 dabei eher spontan und aus der Not heraus. Nach erfolgreichen Theater-Tourneen in England und Amerika wurde er für den Film engagiert und wanderte in die USA aus. Chaplin spürte den Druck seitens der Studiobosse, unter dem er als neuer unbekannter Schauspieler zu leiden hatte. Nach den ersten filmischen Arbeiten machte man ihm unmissverständlich klar, dass er liefern müsse: Seine Rolle habe er noch nicht so recht gefunden und er solle vor allem lustiger werden! Also lieh sich Chaplin spontan bei den Kollegen, mit denen er sich eine Garderobe teilte, Kostümteile aus. David Robinson beschreibt es in seiner umfangreichen Biographie wie folgt:

„Charlie lieh sich Fatty Arbuckles riesige Hosen aus, dazu die Jacke des winzigen Charles Avery, Fred Sterlings Schuhe Größe 48, eine zu kleine Melone, die Arbuckles Schwiegervater gehörte, und einen Schnurrbart, der für Mack Swain bestimmt war.“

Nichts sollte zusammenpassen, die Figur ein einziger Widerspruch in sich: Der Tramp war geboren. Mit dem Kostüm, so reflektiert er es später, hatte er plötzlich auch die Rolle, wusste gleich, wie er sich zu bewegen hatte, und erforschte dies nun in unzähligen filmischen Situationen. „Der Spazierstock steht für die Würde des Menschen“, sagte Chaplin später, „der Schnurrbart für die Eitelkeit und die ausgelatschten Schuhe für die Sorgen“. Und auf die Frage, wie denn diese neue Figur am besten zu charakterisieren sei, soll er einem der Studiobosse folgendermaßen geantwortet haben:

„Wissen Sie, dieser Bursche ist sehr vielseitig; er ist ein Tramp, ein Gentleman, ein Dichter, ein Träumer und ein einsamer Bursche. Immer hofft er, es möge ihm etwas Romantisches und Abenteuerliches begegnen. Er möchte die Menschen glauben machen, er sei ein Wissenschaftler, ein Musiker, ein Herzog oder ein Polospieler. Und dabei ist er durchaus imstande, fortgeworfene Zigarettenstummel aufzuheben oder einem Säugling seinen Lutscher wegzunehmen. Ja, wenn die Gelegenheit es verlangt, wird er sogar einer Dame einen Tritt in den Allerwertesten versetzen - aber wirklich nur dann, wenn er sehr aufgebracht ist.“

Aus dieser vielfältigen Beschreibung spricht bereits ein künstlerischer Anspruch, der über den seiner Auftraggeber weit hinausgeht und letztlich in einen unauflöslichen Konflikt mit diesen führt. Denn Chaplin hat schnell Erfolg in den ersten Slapstick-Komödien und entwickelt sich zum Publikumsliebling. Doch die schnell produzierten, niveaulosen Filme befriedigen ihn als Künstler nicht. Nun beginnt er seinerseits Forderungen zu stellen, fordert mehr Mitsprache ein und wechselt dafür auch mehrmals die Produktionsfirma. Schließlich gründet er jedoch mit anderen Filmschaffenden seine eigene, die United Artists, und wird unabhängig. Chaplin zeigt sich dabei nahezu als Universalkünstler: Er spielt nicht nur, er schreibt auch die Drehbücher, führt Regie, schneidet den Film später und ist insgesamt sein eigener Produzent. Für die späteren Filme wie „Lichter der Großstadt“ wird er auch die Musik komponieren. Das Erfolgsgeheimnis seiner Filme lässt sich dabei auf die Formel Komik + Romantik (oder: Witz + Gefühl) in kongenialer Mischung bringen. Während man davor vor allem auf den schnellen, billigen Lacher durch wilde „Hau-drauf-Komödien“ setzte, bekommen Chaplins Werke eine andere Tiefe durch die Einbeziehung der Dimension des Gefühls. Wir lieben Chaplin, weil er an der Welt und der Liebe scheitert, weil er sich immer wieder frisch verliebt trotz der unzähligen Abfuhren, die er erfährt, weil er sich stets aufs Neue in abenteuerliche Schlamassel verwickelt und in letzter Sekunde den Kopf noch aus der Schlinge zieht. Weil seine Offenheit und Neugier der Welt gegenüber unerschütterlich bleiben, trotz ihrer Tücke und der Hartherzigkeit der Menschen. Dabei ist er alles andere als perfekt, doch gerade das macht ihn aufgrund seiner aufgeschlossenen Art so liebenswürdig. Die einfachen Situationen, in die dieser Mensch gerät, versteht man dabei ebenso weltweit wie seine Triebe und Regungen – und das gerade auch deshalb, weil er in der frühen Periode des Films noch keine Sprache benutzen kann. Die Not wird zur Tugend und dementsprechend groß die Sorge mit dem Aufkommen des Tonfilms. Wie soll diese ikonische Figur nur sprechen? Für Chaplin geht es hier auch um ein ernsthaftes künstlerisches Problem, da er fürchtet, dass gerade seine Körper-Komik nur darunter leiden kann:

„Die Tonfilme? Sie können sagen, dass ich sie verabscheue. Sie kommen und zerstören die älteste Kunst der Welt, die Kunst der Pantomime. Sie zerstören das schöne, große Schweigen.“

Heute muss man dabei unweigerlich auch an moderne Erkenntnisse der Psychologie denken, die bestätigen, dass 90 Prozent unserer Kommunikation nonverbal ist. Chaplin jedenfalls hält mit „Lichter der Großstadt“ am Stummfilm fest – und das mit Erfolg. Davor entstehen in den 1920er Jahren noch die letzten unbeschwerten Meisterwerke der Ära wie „The Kid", „The Circus“ oder „The Gold Rush“, der zur großen Zeit der Goldgräber im schneebedeckten Alaska des 19. Jahrhunderts spielt (und das Bühnenbild unserer Inszenierung deutlich inspirierte). Auf „Lichter der Großstadt“ folgt mit „Modern Times“ erst 1936 Chaplins letzter großer Tramp-Film. Die gesellschaftskritische Seite des Films, der unter anderem in der berühmten „Factory Scene“ die Entfremdung der Arbeitswelt durchs Fließband kritisiert, bringt ihm den Verdacht ein, Kommunist zu sein. Die Behörden beobachten ihn von nun an schärfer. Mit „The Great Dictator“ bringt Chaplin 1940 schließlich seinen politischsten, erfolgreichsten und vielleicht wirkmächtigsten Film heraus. Zugleich etabliert er sich in der Doppelrolle als jüdischer Friseur und Herrscher über Tomania Adenoid Hynkel, die am Ende verwechselt werden, als stimmgewaltiger Charakterdarsteller, der in der pathetischen Friedensrede auch rhetorisch brilliert.

Darauf folgen ebenfalls bemerkenswerte, aber heute eher unbekannte Tonfilme von und mit Chaplin wie „Monsieur Verdoux“, „Limelight“ (zusammen mit Buster Keaton) oder „A King in New York“. Der letzte entsteht bereits in England, weil Chaplin in der McCarthy-Ära der Hetzjagd auf angebliche Kommunisten zum Opfer fällt und ihm nach einer Europatour die Einreise in seine Wahlheimat verweigert wird. Chaplin verarbeitet die bitteren Erfahrungen mit den USA im britischen Spielfilm "A King in New York" und lässt sich privat in der Schweiz nieder. Erst am Ende seines Lebens erhält er die verdiente Rehabilitation seines schöpferischen Lebens in Amerika durch den Ehrenoscar im Jahr 1972.

Charlie Chaplin stirbt am 25. Dezember 1977 im Alter von 88 Jahren zu Hause in Corsier-sur-Vevey in der Schweiz. Damit ist das irdische Leben dieses großen Künstlers zwar vorbei, doch nicht nur seine Werke leben weiter. Auch sein unermesslicher Erfolg verfolgt Chaplin bis ins Grab, wie eine letzte grotesk-komische Anekdote eindrücklich belegt. In der Nacht vom 1. auf den 2. März 1978 wird nämlich Chaplins Leichnam vom Schweizer Friedhof gestohlen, um Lösegeld von der Familie zu erpressen. Seine Tochter Geraldine berichtet:

„Es war surreal, hatte aber auch komische Seiten. Zur Geldübergabe sind wir mit dem Rolls Royce meiner Mutter gefahren. Im Fußraum war ein Polizist versteckt, so ein 007-Typ mit Waffe. Er neigte zur Reisekrankheit und hat sich mitten im Einsatz übergeben. Ein Postbeamter hatte den Funkverkehr mitgehört. Er war in der Mittagspause und dachte: Action! Mit dem Postlaster hat er sich an uns drangehängt. Um uns herum waren überall Zivilpolizisten, die den Briefträger sofort aus dem Auto geholt haben. Besorgte Schweizer Bürger haben das dann für einen Postraub gehalten, die Nummern der Zivilstreife notiert und die örtliche Polizei auf ihre eigenen Kollegen gescheucht. Es war wie ein letzter Chaplin-Film.“

Die Täter werden schließlich gefasst und Chaplins Leiche erneut beerdigt.
Seine Frau lässt darüber eine zwei Meter dicke Betonschicht anbringen.
 

„Lichter der Großstadt“ gilt nicht nur als ein Meisterwerk in Chaplins Schaffen und aus der Stummfilmzeit überhaupt, sondern ist zugleich auch einer seiner autobiographischsten Filme. Biographen gehen davon aus, dass Chaplin in der Figur des Blumenmädchens seiner geliebten Mutter ein Denkmal gesetzt hat, die während der Konzeptionsphase des Films 1928 verstarb, und dass durch den dauerbetrunkenen Millionär eine bittere Parallele zu Chaplins frühverstorbenem alkoholkranken Vater besteht. Noch wichtiger ist aber filmhistorisch gesehen die Tatsache, dass hier eine Film- und Schauspielkunst zu ihrem Höhepunkt kommt, die über Jahrzehnte gereift ist und bald verschwinden muss. Glücklicherweise für immer auf Filmrollen festgehalten, wird die Stummfilmära dem Tonfilm Platz machen müssen. Chaplin setzt sich gegen alle Widerstände des Zeitgeists noch einmal durch und bereitet während des Siegeszugs des Tonfilms seiner Kunst mit diesem Film ein melancholisches Monument, das die Zeitenwende bereits vorausahnt und anspielungsreich in das Werk aufnimmt. Auch wenn er seine Figuren nicht sprechen lässt, nutzt er nun die neue Möglichkeit, um das erste Mal die Musik für seinen Film zu komponieren. Der Legastheniker Chaplin kann dabei keine Noten lesen, sondern spielt, summt oder pfeift seinen Musikern die Melodien zur Notation vor. Bis dahin wurden Chaplins Filme, wie zur Zeit des Stummfilms üblich, von einem Pianisten oder einem kleinen Orchester live im jeweiligen Kino begleitet, wo eine Auswahl bereits bestehender Musikstücke gespielt wurde. Für seine erste Komposition setzt Chaplin vor allem auf „elegante und romantische Motive“, er möchte die Musik als gefühlvollen Kontrapunkt zur Slapstick-Komik verstanden wissen und setzt daher wenig auf Tongags, wie etwa das Mickey-Mousing (Musikalische Nachahmung von Bewegung; z.B. Treppenabgang = Schritt für Schritt tiefer werdende Töne etc.). Den Akt des Sprechens parodiert er allerdings musikalisch in mehreren Szenen des Films. Gleich zu Beginn wird beispielsweise ein Denkmal eingeweiht und die Reden der Stadtelite dabei durch ein Saxophon in stilisiertes Gequäke übersetzt. Chaplin scheint uns sagen zu wollen, wie unbedeutend das gesprochene Wort gegen die Ausdruckskraft des Körpers und die Poesie der Bilder ist. Der Film legt jedenfalls bis heute eindrücklich Zeugnis davon ab und auch das Publikum strömte schon damals in die Kinos. „Lichter der Großstadt“ wird ein großer Erfolg im Feuilleton und an der Kasse.

An keinem Projekt arbeitete Chaplin so intensiv und lang wie an diesem Film. Die Vorüberlegungen dauerten bereits einige Jahre, bis Chaplin sich von 1928 bis 1931 ganz auf dieses Projekt konzentrierte. Hunderte sogenannte „Preparatory notes“ entstanden. Wie in den meisten seiner Filme arbeitete er ohne festes Drehbuch, stattdessen sammelte er seine unzähligen Gedanken zu einem Filmprojekt, indem er die Ideen für Szenen, ungelöste Fragen oder Probleme notierte. Auch während der Dreharbeiten entstand mehrfach so viel Material, wie im fertigen Film zu sehen ist, und einige meisterhafte Szenen fielen einer konsequenteren Handlungsführung zum Opfer. Zugleich galt Chaplin am Set als äußerst pedantisch und ließ entscheidende Szenen solange drehen, bis sie für ihn stimmten, und spielte den Schauspiel-Kollegen ihre Rollen dabei hemmungslos vor. Wenn er nicht weiter wusste, zog er sich zum Nachdenken zurück, während das gesamte Filmteam stets drehbereit zu sein hatte. Die berühmte erste Szene, in der der Tramp das blinde Blumenmädchen kennenlernt, soll er 451 Mal* mit ihr gedreht haben. Virginia Cherill war eine junge Schauspielerin mit wenig Erfahrung, was nicht unüblich für Chaplins Arbeitsweise war, doch Ms. Cherill konnte es ihm in keiner Weise recht machen. Darüber hinaus verstanden die beiden sich weder menschlich noch erotisch – und Chaplin war geradezu berüchtigt dafür mit seinen Darstellerinnen Affären anzufangen. Nachdem er sie vom Set gefeuert hatte, auch weil sie sich über die erwartete Einsatzbereitschaft rund um die Uhr beklagt hatte, besann er sich nochmal. Besonders da schon so viele Szenen mit Virginia Cherill aufgenommen waren und die Umbesetzung so unnötig teuer und zeitaufwendig geworden wäre, drehte er den Film schließlich doch mit ihr zu Ende. Bis heute begeistert ihre schlichte Präsenz in diesem filmischen Meisterwerk.  

Zu Beginn des Jahres 1931 feierte der Film Uraufführung in Los Angeles und Chaplin ging kurz danach auch auf Werbetour nach Europa, wo er in Berlin von einem riesigen Volksauflauf bejubelt wurde, aber auch in die politischen Turbulenzen jener Zeit geriet. Obwohl Chaplin sich nicht als dezidiert politischen Künstler verstanden wissen wollte, versuchte die linke Presse die sozialkritischen Töne seiner Filme für ihre Zwecke zu vereinnahmen, was dazu beitrug, dass er in Europa wie in den USA als vermeintlicher Kommunist angefeindet wurde. Nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 wurden in Deutschland zwölf Jahre lang keine Chaplin-Filme gezeigt, weil man in ihm den Erzfeind des „jüdischen Bolschewismus“ erkennen wollte.

* Die im Internet geläufige Zahl von 342 Takes ist noch untertrieben, wie eine erneute Zählung des Chaplin Office in Paris, das die Rechte vertritt, kürzlich ergeben hat.

Chaplin spielt Virginia Cherrill das blinde Blumenmädchen vor.
Charlie Chaplin, Virginia Cherrill
Charlie Chaplin, Harry Myers
Charlie Chaplin, Hank Mann

In den Archiven der Stummfilmzeit gibt es einen Beitrag mit dem Titel „Was sprechen die Leute im Film?“, der 1919 in der Neuen Filmwoche erschien. Der Artikel führt uns dabei auf amüsante Weise eine faszinierend fremde Welt vor Augen:

„In vielen Szenen sieht man die Schauspieler miteinander reden und viele Leute haben sich wohl öfters gedacht, was sie wohl untereinander sprechen mögen. Wir können nun verraten, dass es in der Kindheit des Films oft passierte, dass der Held vor seiner Angebeteten auf den Knien lag und zu ihr sagte: ‚Gottlob, wenn diese Szene vorüber ist, gehen wir mittagessen!‘ Oder ‚Gott, wie warm ist es heute wieder hier‘ statt der ernsten Liebeserklärung, welche die Szene verlangte. […] In der Regel können gewöhnliche Menschen aus den Bewegungen der Lippen nicht ersehen, was gesprochen wird. Man erinnert sich aber an den Fall, dass ein Taubstummer der Aufführung eines Filmdramas beiwohnte und bei den ernstesten Szenen sich vor Lachen schüttelte, weil er von den Lippen der Darsteller ihre Wechselgespräche ablas, während die übrigen nichtsahnenden Zuschauer der tiefernsten Handlung andächtig und schluchzend folgten.“

Dieses skurril komische Detail aus dem „Maschinenraum“ des frühen Films entdeckt man, wenn man im Proberaum eines Theaters sitzt und sich plötzlich die Frage auftut, wie man einen Stummfilm adäquat fürs Theater adaptiert. Soll man während der Proben sprechen? Ist das nicht komisch oder nimmt den Zauber? Ist das ein überflüssiger Umweg oder macht es die Szene vielleicht natürlicher? Wie war es wohl zur Zeit des Stummfilms üblich?

Auch wenn obige herrliche Szenen vorgekommen sein mögen, arbeiteten im Laufe der Filmgeschichte die meisten professionellen Künstler schon im Stummfilm bald mit Drehbüchern mit passendem Dialog, der gelernt werden musste. Von Chaplin ist bekannt, dass er, obwohl er am Set ein Perfektionist war, lediglich „preparatory notes“ anlegte, also vorbereitende Notizen, die eine Szene beschrieben und manchmal auch Dialogteile enthielten. Die wurden dann eventuell eingeblendet und Chaplin oder seine Schauspieler mussten natürlich auch genau diese Worte dann aufsagen. Für die Proben des Theaters entschieden wir uns ebenfalls dafür mit situativem Dialog zu proben. Der Hauptgrund lag in der Annahme, dass die Gänge und Gesten „gefüllter“ sein würden. Um also sinnfreies Gestikulieren und Grimassieren zu vermeiden, begannen die Proben mit der Ansage, passenden Dialog aus dem Stegreif zu improvisieren. Das fiel den Akteuren zunächst  gar nicht so leicht und es ergaben sich komische Szenen, in denen Worte während der Probe von Darsteller zu Darsteller geflüstert wurden, was dann den gewünschten Effekt eine klare Sprech- und Körperhaltung einzunehmen, ins Lächerliche verkehrte. Nach einigen Ermutigungen seitens der Regie und erneuten Anläufen gelang aber der Coup die Szenen natürlich und stark im Ausdruck zu improvisieren, bis die Sprache sich ohne besondere Ansage wieder verflüchtigte, aber der innere Gestus der Sprechhandlung zurückblieb.

Der berühmte Song „Smile“, dessen Melodie von Chaplin für den Film „Modern Times“ komponiert wurde, kann ebenso wie der Satz „Morgen werden die Vögel singen!“, der einer filmischen Zwischenblende aus „City Lights“ entstammt, als Leitmotiv für die Inszenierung gelten. Chaplins Tramp ist genauso wie das Blumenmädchen von einem tiefverwurzeltem Optimismus geprägt, einer kalten Winterwelt zum Trotz. Der Text des Songs, der erst 1954 von John Turner und Geoffrey Parsons geschrieben und dann in der Interpretation von Nat King Cole zum Charterfolg avancierte, drückt ein Stück chaplinesker Lebensphilosophie aus, die auch in der Tramp-Figur steckt. Es ist die bestechende universelle Einfachheit seiner Erzählweise und seines Ausdrucks, die zuerst naiv und zuletzt zutiefst menschlich auf uns wirken mag. Weil Chaplin das Lächeln nicht leicht von den Lippen geht, sondern er es in einem Widerspruch, in einem lebensmutigen „Trotz alledem“ begründet.
Auf die Frage jedenfalls, wie Charlie Chaplin, Buster Keaton und Stan Laurel eigentlich zu den größten Stummfilmkomikern ihrer Zeit werden konnten, soll letzterer dazu passend in einem Interview geantwortet haben: „Ich weiß nicht, ob wir die größten waren, aber wir waren mit Sicherheit die verzweifeltsten.“
Hinter der Maske der Komik verbirgt sich bei diesen Künstlern ein tiefer, fruchtbarer Abgrund. Das Tal der Tränen nährt einen dunkelbunten Blumengarten und lässt eine heitere Hoffnung keimen, die nicht leichtsinnig beschworen, sondern schwer errungen ist. Den ermutigenden, poetischen Text gibt es hier zum Nachlesen.

SMILE

Smile, though your heart is aching
Smile, even though it’s breaking
When there are clouds in the sky
you’ll get by
If you smile through your fear and sorrow
Smile and maybe tomorrow
You’ll see the sun come shining through
for you

Light up your face with gladness
Hide every trace of sadness
Although a tear may be ever so near
That’s the time you must keep on trying
Smile what’s the use of crying
You’ll find that life is still worthwhile
If you’ll just
Smile

Music by Charles Chaplin, Lyrics by John Turner and Geoffrey Parsons
©Copyright 1954 by Bourne Co. Copyright Renewed All Rights Reserved International Copyright Secured

Und hier können Sie die Version von Nat King Cole anhören: 



Chaplins umfangreiches Werk birgt eine einzigartige Lebensphilosophie, die sich durch einige prägnante Zitate zumindest anreißen lässt, denn nicht nur hat Chaplin sein Leben und seine Kunst in seiner Autobiographie mit dem schlichten Titel „My Autobiography“ reflektiert, sondern über kaum einen anderen Künstler wurde im 20. Jahrhundert so viel geschrieben. Hier sind einige der schönsten, stärksten, sinnreichsten Zitate von und über Chaplin zusammengestellt, beginnend mit Aphorismen des Meisters selbst.

1. Das Leben ist eine Tragödie, wenn man es aus der Nähe betrachtet. Von Ferne gesehen ist es eine Komödie.
2. Alle elementare Komik gründet sich darauf, dass der Mensch in einer lächerlichen und peinlichen Lage handeln muss.
3. Alles was ich brauche, um eine Komödie zu schaffen, ist ein Park, ein Polizist und ein hübsches Mädchen.
4. Lachen ist Stärkung, Befreiung, ist Aussetzen von Schmerz.
5. Unser Wissen hat uns zynisch gemacht. Unsere Klugheit, hart und unfreundlich. Wir denken zu viel und fühlen zu wenig. (Schlussrede aus „The Great Dictator")
6. Einfachheit ist keine einfache Sache.
Charlie Chaplin

7.  Wir können Chaplins Verständnis für das Detail nie genug bewundern, die uhrwerkgleiche Präzision, die jeder seiner Filme verkörpert und die vielleicht das Wesen seines Genies ausmacht – ein Element, das vielleicht wichtiger ist als seine Gagkunst.
Buster Keaton

8. Das ist ein sehr energischer, arbeitsbesessener Mann. In seinen Augen qualmt die Glut der Verzweiflung über die Unveränderlichkeit des Niedrigen, doch er kapituliert nicht. Wie jeder echte Humorist hat er ein Raubtiergebiss. Damit geht er auf die Welt los. Er tut es auf eine ihm eigene Art. Er ist – trotz des weißen Gesichts und der dunklen Augenreifen – kein sentimentaler Pierrot, aber auch kein bissiger Kritiker. Chaplin ist Techniker. Er ist Mensch in einer Maschinenwelt, in der die Mehrzahl seiner Mitmenschen nicht mehr um das notwendige Gefühl und Gedankenwerkzeug verfügt, um sich das ihnen verliehene Leben wirklich anzueignen. Sie haben keine Phantasie. Also beginnt Chaplin zu arbeiten. Wie ein Zahntechniker falsche Gebisse, so erzeugt er Phantasieprothesen.
Franz Kafka

9. Komisch ist alles: komisch der Gang, komisch die Füße, komisch das Hütchen und komisch der Rhythmus dieser gleitenden, sehr sparsamen Bewegungen … Warum hat eine Welt über diesen Film gelacht? Weil er an die Urinstinkte appelliert. Weil er überall siegen muß, wo es nur Andeutungen einer Zivilisation gibt. Weil hier ein Sieger des Lebens ist, der zwar den Unterdrückten angehört, aber doch – mit allen Mitteln arbeitend – triumphiert …

Man möchte die Arme aufheben und ihm zurufen: Gott sei Dank, dass es dich gibt! Dein Herzblut hat dein Gehirn passiert – du fühlst mit dem Kopf und denkst mit dem Herzen … In deinen Filmen ist echteste Menschlichkeit und tiefste Logik des Herzens.
Kurt Tucholsky

10. … dieser Mensch, der da … seine wunderlichen Wege watschelt, ist vom Himmel gefallen. Er hat keine Heimat und keine Abkunft, kein Woher und kein Wohin, er ist rundherum ganz und gar einzeln, ohne Bedingtheit durch Nahes und Fernes, er ist nicht geworden, sondern so, mit Stöckchen, zerflossenen Schuhen und unverlierbarem Hut, aus der Hand Gottes gesprungen. Er geht ohne Ziel durch die Zeit, durch den Raum … Es kann ihr [Chaplins Erscheinung] alles geschehen, aber es kann ihr nichts geschehen: denn sie kommt aus dem Märchen, ist dem Augenblick nur wie geliehen von der Ewigkeit, treibt sich unter Menschen umher wie ein Kobold, der von einem guten Geist in ihresgleichen (zu unerforschlichem Zweck) verwandelt ward. Aus diesem verstohlen Märchenhaften fließt der Zauber der Chaplin-Gestalt, das Ewig-Kindliche in uns tief befriedigend und beglückend … Alles Witzige und Rührende, Feine und Drastische dieses wunderbaren Filmspielers wird, wie Text durch Musik, gebunden durch seine vollkommene Grazie. Sie erzeugt die spezifische Chaplin-Welle, die Ströme von Sympathie in den Raum sendet.
Alfred Polgar

Wer weiß, dass die klassische Rolle eines Dramaturgen darin besteht, als „Anwalt eines Textes“ zu fungieren, für den mag es zunächst so wirken, als hätte ein solcher, zeitökonomisch betrachtet, in einem Schauspiel ohne Worte den Jackpot geknackt, denn: Die reden ja nicht. Kein einziges Wort muss in seinem Sinn befragt, keines hinzugefügt oder gestrichen werden. Chaplin sei Dank! Man stelle sich vor, Chaplin wäre der Mode seiner Zeit gefolgt und hätte 1927 nach Erscheinen von „The Jazz Singer“, dem ersten Tonfilm-Hit, gedacht: Endlich kann ich alles sagen, was ich will! Und dann hätte seine Figur im besten Seifenopern-Ton angefangen loszureden, zu labern, zu quatschen, zu quasseln und zu schwadronieren! Vielleicht in feinstem Cockney, einem Londoner Dialekt der Arbeiterklasse, mit dem Chaplin aufgewachsen ist. Und dann säße man da – als Dramaturg – und müsste damit umgehen, das ins Deutsche übertragen. Nicht nur wäre vielleicht viel vom Charme der Chaplin-Filme verloren gegangen, nein, ich glaube, dass die Filme entzaubert worden wären –so wie schon der Farbfilm und Nachcolorierungen von Stummfilmen, wie es sie im Internet zuhauf gibt, uns etwas nehmen. Es ist faszinierend und fremd, dass die Vergangenheit so schwarzweiß gemalt ist. Wird es bunt und lebendig, drängt sich das Bild anders auf. So technisch faszinierend wie es ist, so ist es künstlerisch gesehen obszön. Schließlich leben wir in einer Zeit, die nicht nur extrem laut, bunt, geradezu in allen Hinsichten orgiastisch die Sinne vereinnahmt, sondern die auch permanent etwas von uns will. Die Großstadt, so sagte mal ein bekannter Regisseur, ist eine Art symbolisches Universum mit tausend Bildern, Tönen, Gerüchen und eben auch Zeichen, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Die Gefahr liegt darin, dass man vor lauter Sehen nichts mehr wahrnimmt. Der gestresste Großstädter geht mit Mantel, Mütze und Kopfhörern aus dem Haus, der zudringlichen Welt setzt er seine eigene entgegen, ein permanenter Kampf um Aufmerksamkeit, dieser zweitwichtigsten Währung unserer Zeit. Die Aufgabe der Kunst kann eben gerade darin liegen die mannigfaltigen Eindrücke der Wahrnehmung auf spezifische Weise zu verarbeiten: sie zu stilisieren. Erst durch die Reduktion können bestimmte Dinge wieder sichtbar, wieder erfahrbar gemacht werden. Eben das passiert im Stummfilm auf vielfältige Weise, inspirierte uns in der Probenarbeit und findet sich so im übertragenen Sinn auch in unserer Theateradaption. Ebenso wie der Stummfilm sind dem Theater starke Limitierungen auferlegt, die, als Herausforderung begriffen, spezifische Kunstformen erst ermöglichen. „Der Meister findet sich in der Beschränkung und erst das Gesetz macht frei“, wusste schon Goethe. Ich bin jedenfalls heilfroh, dass der Tramp stumm und schwarzweiß geblieben ist!

In Neuss übernahmen wir die Schwarzweiß-Ästhetik, ließen die Spieler wortlos agieren und reduzierten auch die Text-Einblendungen gegenüber dem Film auf das notwendige Minimum, das zum Verständnis der Geschichte unerlässlich erschien. Diese Limitierungen ergaben sich als fruchtbar, weil sie zum präzisen Erzählen herausforderten. In langen anregenden Konzeptionsgesprächen mit den Damen der Regie Caroline Stolz und Antonia Schirmeister destillierten wir zu dritt den märchenhaften Kern aus der chaplinesken Geschichte, die sonst leicht Gefahr laufen kann zur Nummern-Revue zu verkommen. Dramaturgisch fiel mir auf, dass es im Film zunächst keinen rechten Konflikt zu geben schien, wenn man davon absieht, dass dieser Tramp als einziger Widerspruch in sich, mit sich, den seinen und der Welt immer genug komisches Konfliktpotential birgt, um uns zum Lachen zu bringen oder zu rühren. Die raffinierten Slapsticknummern Chaplins aus dem Film sollten neben der anrührenden Liebesgeschichte freilich eines der Herzstücke bilden, aber wie ohne in schalen Kopismus zu verfallen?

Die Geschichte wirkte in der kühlen Draufsicht, ehrlich gesagt, ein wenig zusammenschustert oder hauptsächlich als Kulisse für Glanzstücke des Meisters; erst später erfuhr ich, dass Chaplin ohne festes Drehbuch arbeitete und seine unerschöpfliche Phantasie in den Vorarbeiten genauso wie am Set unaufhörlich wucherte und die tollsten Blüten hervortrieb. Nach mehrmaligem Sehen entfaltete der Film seine poetische Bildsprache, behielt für mich aber gewisse dramaturgische Schwächen.  Chaplin arbeitete eben nicht nach Rezept. Auch wir wollten nicht Malen nach Zahlen, fragten uns aber, wie wir uns dieses Meisterwerk zu eigen machen konnten – angesichts einer omnipräsenten Überfigur namens Charlie Chaplin. Ein Antagonist musste her.

Im Film gibt es erst relativ spät einen wirklich dramatischen Konflikt, wenn das Blumenmädchen krank wird und der Tramp die Annonce für die Augen-OP entdeckt. Trotz einiger unsympathischer Nebenfiguren, die meist die öffentliche Ordnung repräsentieren, gibt es keine nennenswerten Gegenspieler für Chaplin. Meine erste Idee war daher, diese gesellschaftliche Dimension, die in vielen Chaplin-Filmen mitschwingt und das Landstreicherdasein prägt, zu verstärken, also: Individuum gegen Gesellschaft. Doch es überzeugte die anderen nicht recht und entpuppte sich als zu kompliziert gedacht. Meine Regisseurinnen wollten in eine poetische Einfachheit. Das Wort Märchen fiel früh und war von uns noch nicht konkret verstanden. So kamen wir schließlich über den Umweg eines Bühnenproblems auf die finale Setzung. Es sollte eigentlich eine schwankende Boxring-Bühne geben, die kippen konnte und die Figuren zum Stolpern, Fallen, Purzeln brachte – ideal für fantastische Nummern, sie stellte sich jedoch kurz vor knapp als statisch unrealisierbar heraus. Antonia Schirmeister kam dann auf die Idee, das Stück in eine Schneelandschaft zu verlegen. Ich jedenfalls war noch nicht überzeugt. Schnee, ist das nicht schrecklich kitschig, pfiff mein kaltes Dramaturgenherz durch die Zähne!? Als die Idee eines Winterkönigs in einem weiteren Gespräch aufkam, zurrten sich die Gedanken allmählich zu einem Strang zusammen, dieser Winterkönig könnte der gesuchte Antagonist sein. Die Fassung nahm langsam Gestalt an. Auch für das anonyme, entfremdete Großstadtleben in CITY LIGHTS schien die Winterwelt die sinnlichere Übersetzung zu sein und das Blumenmädchen erschien als Gegenkraft des Frühlings Sinn zu ergeben. Außerdem braucht ein König Gefolge! Und wir hatten dem Muay Thai – Kampfsport-Verein der „Fightholics“ eine Zusammenarbeit versprochen. Die wollten natürlich auch auf ihre Kosten kommen und das hieß nicht zuletzt: kämpfen. Ein böser Winterkönig war eigentlich ideal, damit seine „krassesten Schergen“ auf der Bühne losgelassen werden konnten! Diese Kampfkünstler, die teils noch nie auf einer Bühne standen, brachten bald schon eine erfrischende Energie auf die Proben, schlugen sich nicht nur bravourös auf die Nase, sondern auch mit der ungewohnten Theatersituation, den Masken und den choreografischen Erfordernissen erstaunlich gut – und uns ging das Herz auf, die allmähliche Verliebtheit ins Theater zu beobachten, die selbst hartgesottensten Theaterveteranen die Krokodilstränen in die Augen getrieben hätte.

Der Außenseiter Tramp kommt in eine kalte Welt, beherrscht von einem machtbesessenen Winterkönig, der ein bezauberndes, mit Blindheit geschlagenes Blumenmädchen bedroht, in das sich dann der Landstreicher verliebt und an deren Seite er kämpfen muss, damit die Liebe siegt! Die einfache, klassische (Anti-)Heldenreise war in seiner chaplinesken Variation gefunden.

Die Überzeugungskraft der Regisseurinnen, ihre Leidenschaft und ihre Liebe fürs Theater brachten in der Probenzeit am RLT eine Art Off-Theater-Spirit hervor mit beglückenden Momenten, als wären wir  ein riesiges Freies Theater, an dem alle ihre Kräfte und Fähigkeiten unabhängig von vertraglichen Funktionen und üblichen Hierarchiegrenzen bestmöglich einbrachten. Beispielhaft hier kann die Zusammenarbeit an den Großmasken gelten, an deren Bau die Werkstätten, die Maskenabteilung, der Malsaal und unser Maskencoach Sarah Wissner wochenlang tüftelten. Ich habe die Masken jedenfalls noch blond und mit rosigen Wangen im Malsaal liegen sehen!

Mit Hajo Wiesemann am Flügel und Christoph König an der Violine wurde die Produktion zudem von zwei fantastischen Musikern, die nebenbei auch als Anspielpartner der Schauspieler brillierten, beschenkt, die die Musik genau auf das Spiel der Darsteller abstimmten und so zum vierten Mitspieler machten. Eher zu Hilfe kam uns auch dabei wiederum ein Problem, ein Rechteproblem, das uns die Verwendung der Filmmusik nicht möglich machte. Nichts an diesem Projekt ist einfach so vom Himmel gefallen! In allem stecken lange, teils langwierige Prozesse, Schweiß, Arbeit, Nichtaufgeben, Glauben und tätige Liebe ans Theater!

Nun gut, ich will das Projekt auch nicht verklären – und tue es doch ein bisschen. Aber der Chronist in mir verlangt wenigstens zu erwähnen, dass ungewöhnliche Wege auch ungeahnte Hindernisse hervorbringen, von denen wir genug hatten. Wie CITY LIGHTS auch für Chaplin ein Herzensprojekt war und solche oft die schwersten werden, sich seine Dreharbeiten jahrelang hinzogen und sein Geld verschlangen, wurde auch das Rheinische Landestheater nicht von Schwierigkeiten verschont, von denen ich nur den atemberaubenden Schlusspurt aus mehreren krankheitsbedingten Verschiebungen, Umbesetzungen und Bühnenunfällen erwähnt haben will.

Unsere LICHTER-Adaption wurde eine vitale Mischung aus einem Zuviel und Zuwenig an Mitteln, aus frei gewählten künstlerischen Grenzen, in denen sich aber die starken Bilder und virtuosen Nummern erst entfalten konnten. Hoffentlich vermag es die Inszenierung, auch beim Zuschauer das innere Kind zu wecken, das sich offen und neugierig in diese chaplineske Welt entführen lässt – und sich danach vielleicht die Augen reibt, weil es ein klein wenig erstaunter und verwunderter auf die Welt blickt.

Fotos: Marco Piecuch

Antonia Schirmeister, Markus Wegner
Johannes Bauer; im Hintergrund: Tolga Sahinoglu, Max Hoffmann
Johannes Bauer
Johannes Bauer
Pasquale Aprigliano, Anna Lisa Grebe, Antonia Schirmeister; hinten links: Max Hoffmann, Markus Wegner, Naomi Küsters
Anna Lisa Grebe; Maskenträger: Pasquale Aprigliano, Max Hoffmann, Naomi Küsters, Tolga Sahinoglu, Markus Wegner

 

 

 

 

 

 

 

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