NATHAN@WHITEBOxX

nach Gotthold Ephraim Lessing

Nathan Carl-Ludwig Weinknecht
Saladin Juliane Pempelfort und Anna Sonnenschein
Recha/Tempelherr Anna Sonnenschein
Daja/Al-Hafi/Patriarch Juliane Pempelfort

Künstlerische Leitung Carl-Ludwig Weinknecht
Sounddesign Markus Andreas Klauk
Dramaturgie Alexander Olbrich und Eva Veiders
TheaterAktiv Felix Herfs

Regieassistenz/Abendspielleitung/Inspizienz Pia Nüchterlein
Soufflage Svenja Dahmen

Spieldauer ca. 1 Stunde
Premiere 22 JAN 2022, Studio
 
Veranstaltungstechnik David Kreuzberg (Technischer Leiter/ Beleuchtungsmeister), Claudia Kurras (stellv. Technische Leiterin/Bühnenmeisterin), Nikolaus Vögele (Beleuchtungsmeister), Fredo Helmert (Leiter der Tonabteilung), Lutz Patten (Assistent der technischen Leitung), Reinhold van Betteraey, Jens Gerhard, Markus Hermes, Ivan Hristov (Medientechnik / IT), Erhad Kovacevic, Daniel Marx, Maik Neumann, Stefan Ostermann, Katrin Otte, Lutz Schalla, Matthias Schöning, Michael Skrzypek, Til Topeit, Oliver Waldhausen, Peter Zwinger Auszubildende Nour al Hamdan, Leona Kittlaus, Malte Meuter, Tim Rettig, Elias Triebel Werkstätten Schreinerei/Schlosserei Engelbert Rieksmeier (Werkstättenleiter), Lutz Meuthen, Jorge Denis Corrales Mora, Jonas Henke, Peter Herbrand, Johannes Selzner Auszubildende Werkstätten Mitja Hennig, Justin Simon, Aaron Czirr Malsaal Sarah Durry (Leiterin Malsaal), Natalie Brüggenolte (in Elternzeit), Laura Conigliello, Dmytro Fedorovic Zhdankin, Luna Warnke, Maria Felicia Montemurro Gewandmeisterei Alide Büld (Leiterin der Kostümabteilung), Waldemar Klein (Leiter der Herrenabteilung, Herrenschneidermeister), Ute Dropalla (Garderobiere), Pauline Gez (Garderobiere), Susanne Groß, Maria Knop, Alina Listau, Anna Listau, Sophia Meuser Maske Marthe von Häring (Leiterin der Maske), Marleen Fee Hackenberg, Laura Rösch Requisite Birgit Drawer (1. Requisiteurin), Lara Maury

Probenfotos Benjamin Schardt Plakatfoto Simon Hegenberg

Bitte beachten Sie, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet sind.

„Nathan der Weise“ spielt im 12. Jahrhundert, genauer gesagt, zur Zeit des Dritten Kreuzzugs. Schauplatz der Handlung ist Jerusalem, das zu dieser Zeit unter der Herrschaft des muslimischen Sultans Saladin steht. Eingebettet in diesen historischen Kontext erzählt Lessing die Geschichte des jüdischen Kaufmanns Nathan, der von einer Geschäftsreise zurückkommt und feststellen muss, dass sein Haus abgebrannt ist und seine Tochter Recha gerade noch rechtzeitig von einem Tempelherren aus den Flammen gerettet wurde. Als er diesem seinen Dank aussprechen und eine Belohnung geben will, wird er von dem christlichen Glaubenskrieger zunächst harsch zurückgewiesen.
Dieser Tempelherr hat eine Vorgeschichte: Sultan Saladin hatte ihn nach einem Sieg über christliche Angreifer, die den fragilen Waffenstillstand gefährdeten, begnadigt, weil dieser junge Tempelherr seinem verschollenen Bruder Assad ähnelt – sozusagen ein Akt der Nächstenliebe eines Muslims gegenüber einem Christen. Recha meint nun in ihrem Retter einen Engel gesehen zu haben und auch der Tempelherr muss sich eingestehen, dass er Gefühle für Recha entwickelt hat.
Nathan wird zum Sultan gerufen. Dieser ist in Geldnot und will, dass Nathan ihm einen Kredit gibt. Um den Druck zu erhöhen, stellt er Nathan eine ungewöhnliche Aufgabe: Er fragt ihn nach der wahren Religion. Nathan antwortet ihm mit der berühmt gewordenen Ringparabel. Diese beeindruckt Saladin so sehr, dass er dem Juden Nathan seine Freundschaft anbietet.
Der Tempelherr hält inzwischen um Rechas Hand an. Doch Nathan hat eine dunkle Vorahnung über dessen geheimnisvolle Vergangenheit und verweigert sie ihm. Als der Tempelherr darüber hinaus von Rechas Pflegemutter Daja erfährt, dass Recha eigentlich christlicher Herkunft ist, vom Juden Nathan aber nicht in diesem Glauben großgezogen wurde, denunziert er ihn beim Patriarchen von Jerusalem. Dessen Plan, Nathan zu überführen, misslingt, da er ausgerechnet den Klosterbruder, der Nathan seinerzeit das Baby Recha in die Arme gelegt hat, zu Nathan schickt. Dieser stellt ihm die entscheidenden Fragen, so dass die überraschenden Verwandtschaftsverhältnisse der Figuren entwirrt werden und die Geschichte zu einem versöhnlichen Ende findet.
 

Familienverhältnisse in Lessings »Nathan der Weise«


Elternhaus und Schule
Gotthold Ephraim Lessing wird am 22. Januar 1729 in der ostsächsischen Kleinstadt Kamenz geboren. Als erstes von zwölf Geschwistern wächst er dort in streng evangelisch-lutherischen Verhältnissen auf: Sein Vater Johann Gottlieb Lessing ist Pastor und Verfasser theologischer Schriften. Seine Mutter Justine Salome Feller war die Tochter des Amtsvorgängers ihres Mannes.
Lessing besucht die städtische Lateinschule in Kamenz sowie die Fürstenschule St. Afra in Meißen – ein Eliteinternat, für das er ein Stipendium bekommen hatte. Lessing ist ein guter Schüler. Darüber hinaus unternimmt er erste schriftstellerische Versuche wie das Lustspiel »Der junge Gelehrte«, das 1748 mit viel Erfolg von der Neuberischen Theatergruppe aufgeführt wird.

Studium und Positionierung als Schriftsteller
1746 beginnt Lessing seiner Herkunft und den Erwartungen des Vaters entsprechend ein Studium der Theologie in Leipzig. Sein Herz schlägt allerdings für das Theater und das Schreiben. Nach zwei Jahren wechselt er das Studienfach, möglicherweise, weil er sich eine bessere finanzielle Perspektive davon verspricht, und zieht nach Berlin, um dort als der wahrscheinlich erste freiberufliche Schriftsteller überhaupt zu leben. Er schreibt Gedichte, betätigt sich als Herausgeber von Zeitschriften, fertigt Übersetzungen an, und macht sich als streitbarer Rezensent einen Namen. 1749 entstehen die Typenkomödien »Der Freygeist« und »Die Juden« sowie das zeitpolitische Dramenfragment »Samuel Henzi«. Zudem arbeitet er für die »Berlinische Privilegierten Zeitung« (später »Vossische Zeitung«).
1752 schließt Lessing in Wittenberg sein Medizinstudium ab. Zurück in Berlin lernt er neben dem Verleger Friedrich Nicolai, dem preußischen Offizier Ewald Christian von Kleist den jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn kennen. Im Briefwechsel mit Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai formuliert Lessing seinen Anspruch an die Tragödie, Mitleid zu erregen und die Mitleidsfähigkeit zu steigern. In diesem Zusammenhang entsteht das bürgerliche Trauerspiel »Miß Sara Sampson«, das beim Publikum sehr gut ankommt. Das Innovative ist, dass die Tragödie die Belange und Sorgen der Menschen im bürgerlichen Milieu thematisiert, was einer Abwendung vom poetischen Regelwerk des französischen Klassizismus, wie er bis dato beispielsweise vom Leipziger Literatur-Professors Gottsched vertreten wird, bedeutet.

Lebenserfahrungen: Militär und Theater
Die nächsten Jahre verlaufen unruhig, aber produktiv: 1755 kehrt Lessing nach Leipzig zurück, um zu schreiben. 1756 begibt er sich auf eine Bildungsreise durch Frankreich, England und die Niederlande, die er aber vorzeitig aufgrund des Siebenjährigen Krieges abbrechen muss. 1758 zieht Lessing wieder nach Berlin, entwirft Dramen und arbeitet an Fabeln. Und er veröffentlicht zusammen mit Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn »Briefe, die neueste Literatur betreffend«, in denen Lessing erneut die Positionen Gottscheds in Frage stellt.
Zur großen Verwunderung seines Umfelds nimmt Lessing eine Stelle als Sekretär in Breslau beim preußischen General Tauentzien an, die er von 1760 bis 1765 innehat. Noch kurz zuvor war das Trauerspiel »Philotas« entstanden (1759), in dem Lessings kritische Haltung gegenüber jedem Kriegsgebaren deutlich wird.
Schließlich erlangt Lessing für drei Jahre eine Stelle als Dramaturg und Berater am Hamburger Nationaltheater. Hier verfasst er die sogenannte »Hamburgische Dramaturgie«, in der er seine Theorien zum Theater darlegt, und verarbeitet in der wiederum bürgerlichen Komödie »Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück« seine Erfahrungen im militärischen Umfeld. Auch lernt er in Hamburg seine zukünftige Frau Eva König kennen. 1796 wird das Theater aus finanziellen Gründen geschlossen.

Der Goeze-Streit und Schicksalsschläge
1770 geht Lessing nach Wolfenbüttel, um dort Bibliothekar in der berühmten Herzog August Bibliothek zu werden, für Lessing ein Glücksfall, denn er liebt die Arbeit als Archivar und Bibliothkar. 1771 verlobt er sich mit der inzwischen verwitweten Eva König. In den ersten Jahren dieser Zeit ist er zunächst wenig schriftstellerisch tätig. 1771 erscheint dann das Trauerspiel »Emilia Galotti«, in dem Lessing den Machtmissbrauch der Obrigkeit anprangert. Lessing unternimmt verschiedene Reisen durch Deutschland, um Eva König nahe zu sein und begleitet den Braunschweiger Prinzen Leopold nach Italien. In seinen letzten Jahren in Wolfenbüttel wendet er sich verstärkt theologischen Fragen zu.
So veröffentlicht Lessing in seiner Funktion als Bibliothekar zwischen 1774 bis 1778 radikal deistische und bibelkritische Schriftstücke aus dem Nachlass des Hamburger Gymnasialprofessors Hermann Samuel Reimarus. Darin wird die natürliche Religion gegen den traditionellen biblischen Glauben an übernatürliche Offenbarungen und Wunder verteidigt. Der Verfasser soll zunächst anonym bleiben.
1776 heiraten Lessing und Eva König. Ein Jahr später bekommt sie einen Sohn, der am folgenden Tag verstirbt. Nur wenige Wochen später stirbt auch Eva Lessing an Kindbettfieber.
Die Veröffentlichung der Reimarus-Schriften ruft starke Kritik hervor und Lessing wird für den Inhalt der Fragmente verantwortlich gemacht, insbesondere durch den Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze. In Folge dieses Streits wird Lessing vom Herzog die Zensurfreiheit für die »Beiträge« aberkannt und er erhält ein generelles Publikationsverbot für religiöse Schriften.
1778 schreibt Lessing an Elise Reimarus: »Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen.« Er erarbeitet daraufhin ein moral- und geschichtsphilosophisches Stück, in dem er zu Toleranz innerhalb der religiösen Überzeugungen aufruft: »Nathan der Weise«. 1780 erscheint die theologisch-geschichtsphilosophische Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechtes«, die als thematische Fortführung des »Nathan« verstanden werden kann.
1779 verschlechtert sich Lessings Gesundheitszustand rapide. Zwei Jahre später erleidet er einen Hirnschlag und wird am 15. Februar 1781 auf dem Magnifriedhof in Braunschweig beigesetzt.

Text: Eva Veiders

Ein Gespräch mit den Schauspieler*innen Juliane Pempelfort (JP), Anna Sonnenschein (AS) und Carl-Ludwig Weinknecht (CLW) über ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem Stück, das Lessings gedankliches Lebenswerk repräsentiert. Die Fragen stellte Eva Veiders.

1 Inwiefern ist dieser Nathan aus Eurer Sicht überhaupt weise?

CLW: Was ist denn Weisheit?

JP:  Was einen weise macht, ist doch eigentlich die Fähigkeit, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen, sozusagen eine gewisse Ambiguitätstoleranz. Nathan erleidet den härtesten Schicksalsschlag, den man sich vorstellen kann, indem er durch die Christen sieben Söhne und seine Frau verliert. Trotzdem schafft er es darüber hinweg zu kommen, an einen Gott oder an Götter zu glauben und Toleranz zu üben. Wichtig ist: Andere nennen ihn den Weisen. Er selbst nennt sich nicht so.

CLW: Ganz genau. Als Person kann man sich selbst nicht als weise empfinden. In dem Moment, indem man das tut, ist man nicht mehr weise, sondern eitel.

2 „Nathan@WhiteBoxX“ stand ja eigentlich schon im letzten Jahr auf dem Spielplan. Die Spielzeit war mit dem Motto „Wie schmeckt Gold?“ überschrieben. Welche Rolle spielt denn Geld in dem Stück?

JP: Zunächst: Weil sich Saladin Geld leihen will, kommt es überhaupt zur Kontaktaufnahme zwischen ihm und Nathan. Im Hinblick auf den historischen Kontext, lässt sich sagen: Die Kreuzzüge kosteten natürlich Geld, mit dem Pilgertum wurde Geld gemacht.

CLW: Nathan selbst hat gar nicht so großes Interesse daran, Geld zu verleihen. In gewisser Weise bedient Lessing hier trotzdem das Stigma des Juden, der Geld besitzt und verleiht. Geld wurde ja als schmutzig empfunden.

AS: Spannend finde ich hier, dass der Tempelherr kein Geld oder einen neuen Mantel annehmen will. Der Christ lehnt das Geld ab.

CLW: Den Juden waren zum Beispiel handwerkliche Berufe in den meisten Gesellschaften nicht erlaubt, weshalb sie Geld verliehen. So entstand das Klischee des jüdischen Wucherers, das ein antisemitisches Narrativ ist, was sich perverserweise bis heute hält.

3 Wie man dem Titelblatt der Erstausgabe entnehmen kann, will Lessing  seinen „Nathan“ als „Dramatisches Gedicht“ verstanden wissen. Wie arbeitet Ihr mit einem solchen Text auf der Bühne?

CLW: Ob nun gereimt oder ungereimt, Gedicht bedeutet immer Form. Hier ist die Form der fünfhebige Jambus, der Blankvers. ­­– In dem Moment, in dem ich als Spieler anfange, auf den Zeilensprung zu achten, fängt die Sprache an sich zu rhythmisieren, was im besten Sinne die Anforderungen verändert…

JP: … weil sich nämlich eine Bedeutungsakzentuierung ergibt. Wenn man das ernst nimmt, ist es sehr hilfreich für die semantische Gewichtung. Man muss sich aber richtig damit beschäftigen.

AS: Stimmt. Wenn ich ein Wort vergesse, fällt mir das direkt auf. Ich versuche das dann innerlich zu korrigieren, und verwende Füllwörter, damit der Vers wieder passt. Man wird in dem Moment sozusagen … selbst zum Dichter.

4 „Nathan der Weise“ wurde 1783 uraufgeführt. Was findet Ihr heute daran noch aktuell?

AS: Es spielt noch immer eine Rolle, wo du herkommst  - „auf welchem Erdkloß du geboren wurdest“ – entweder bist du Ausländer, aus einer reichen Familie, gebildet, gesund - oder nicht. Es gibt noch lange keine gleichen Chancen für alle.

JP:  Und Religion kann zu Eifertum führen, das irrsinnige Züge annimmt. Damals zeigte sich das an den Kreuzzügen, heute beispielsweise am IS. Dabei sind Gewalt und kriegerisches Handeln eigentlich in keiner Religion vorgesehen. Das muss dann nachträglich irgendwie legitimiert werden, damit man bereit ist, für seinen Glauben zu töten.

CLW: Das größte Problem der Menschheit ist wohl noch immer mangelnde Toleranz.

5 Ihr entwickelt zu dritt auf der Bühne die ganze Geschichte. Ergeben sich auch neue Perspektiven aus den Rollenwechseln?

JP: Eigentlich ergibt sich eine große Freiheit. Annas Grundfigur ist Recha und meine ist Daja. Mit dieser Grundfigur als Ausgangspunkt für das, was ich auf der Bühne erzähle, und ihrer spezifischen Motivlage, kann ich die anderen Figuren entwickeln. Wenn Daja zum Patriarchen wechselt, ist das auch ein Benutzen, um die andere Figur zu unterstreichen. Oder wenn Recha auch der Tempelherr ist – da ergibt sich was Irres.

CLW: Ja, sozusagen die Möglichkeit, die eine Figur durch die andere zu lesen.

AS: Ich erlebe das auch so: Manchmal im echten Leben, hilft es einem ja auch bestimmte Worte auszusprechen, indem man in eine andere Rolle schlüpft. Danach kann man sie für sich selbst sagen. Mein Weg durch das Stück ist so: Ich bin Recha und komme nicht weiter, also muss ich jetzt in diese Tempelherren-Rolle, aber der Tempelherr sagt es mir auch nicht, also bin ich wieder Recha und gehe zu Daja, beim nächsten kriege ich es vielleicht raus… Wir gehen zusammen auf die Bühne, hinein in diese Box und schauen, was uns das Stück heute noch sagen kann, wenn wir die Geschichte nachvollziehen.

6 Was ist jeweils euer persönlicher Zugang zu dem Stoff „Nathan der Weise“?

AS: Für mich geht es bei der Recha auch um Identitätsfindung – ein Thema, das bei mir auch noch nicht so lang her ist und mich teilweise noch beschäftigt. Und sie ist offensichtlich das erste Mal verliebt. Auch daran kann ich mich noch gut erinnern.

JP: Ich bin ein DDR-Kind und ohne Religion aufgewachsen. Ich hatte aber immer das Gefühl, dass mir ein Stück Kultur fehlt. Deshalb habe ich zuerst den Koran gelesen, danach die Bibel in Auszügen; der Talmud fehlt mir noch. Im Koran stehen so viele vernünftige Sachen. Letzten Endes sind sich die Religionen gar nicht so unähnlich. Das beschäftigt mich.

CLW: Ich trage selbst einen Ring, den meine Mutter nach dem Tod meines Vaters hat nachmachen lassen, um ihn mir und meinen Brüdern zu schenken … davon abgesehen: Die prägende Zeit in der evangelischen Jugend. Hier ging es nicht nur um Religion, sondern darum sich ganz politisch mit dem Menschsein auseinanderzusetzen. Hätte es diese Zeit in meinem Leben nicht gegeben, wäre ich kein Schauspieler geworden.

7 Und was ist Euer Lieblingssatz aus dem Stück?

AS: „Aber macht denn nur das Blut den Vater? Nur das Blut?“

JP: „Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen.“

CLW: „Aah“ – ganz wichtig, mit diesem Stöhnen vorneweg  – „Ah. Wenn ich einen mehr in Euch gefunden hätte, dem es genügt, ein Mensch zu heißen.“

Für Lessing besteht die Antwort auf diese Frage darin, den Menschen durch die Erregung von Mitleid und Furcht moralisch zu bilden, wie er in der »Hamburgischen Dramaturgie« ausführt. Dieses Werk, das während seiner Zeit als Dramaturg am Deutschen Nationaltheater Hamburg zwischen 1767 und 1769  entstand, besteht aus über hundert Theaterkritiken (übertitelt als »Erstes Stück«, »Zweites Stück« usw.) und erörtert bis heute relevante theatertheoretische Fragen.

Achtzigstes Stück
Den 5. Februar 1768
»Wozu die sauere Arbeit der dramatischen Form? wozu ein Theater erbauet, Männer und Weiber verkleidet, Gedächtnisse gemartert, die ganze Stadt auf einen Platz geladen? wenn ich mit meinem Werke, und mit der Aufführung desselben, weiter nichts hervorbringen will, als einige von den Regungen, die eine gute Erzählung, von jedem zu Hause in seinem Winkel gelesen, ungefähr auch hervorbringen würde. Die dramatische Form ist die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht erregen läßt; wenigstens können in keiner andern Form diese Leidenschaften auf einen so hohen Grad erreget werden: und gleichwohl will man lieber alle andere darin erregen, als diese; gleichwohl will man sie lieber zu allem andern brauchen, als zu dem, wozu sie so vorzüglich geschickt ist.
Das Publikum nimmt vorlieb. - Das ist gut, und auch nicht gut. Denn man sehnt sich nicht sehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muß. Es ist bekannt, wie erpicht das griechische und römische Volk auf die Schauspiele waren; besonders jenes, auf das tragische. Wie gleichgültig, wie kalt dagegen unser Volk für das Theater! Woher diese Verschiedenheit, wenn sie nicht daher kömmt, daß die Griechen vor ihrer Bühne sich mit so starken, so außerordentlichen Empfindungen begeistert fühlten, daß sie den Augenblick nicht erwarten konnten, sie abermals und abermals zu haben: dahingegen wir uns vor unserer Bühne so schwacher Eindrücke bewußt sind, daß wir es selten der Zeit und des Geldes wert halten, sie uns zu verschaffen? Wir gehen, fast alle, fast immer, aus Neugierde, aus Mode, aus Langeweile, aus Gesellschaft, aus Begierde zu begaffen und begafft zu werden, ins Theater: und nur wenige, und diese wenige nur sparsam, aus anderer Absicht.«

1. »Nathan der Weise« trägt die Gattungsbezeichnung »Ein dramatisches Gedicht“ und weist sowohl tragische als auch komische Elemente auf. Lessing verbindet beide zu einem lehrstückhaften Ideendrama über Toleranz und Freiheit. In einem Brief an Friedrich Nicolai im November 1756 – also schon lange vor der Entstehung des »Nathan« – schreibt Gotthold Ephraim Lessing über die Wirkungen von Tragödie und Komödie:

»Wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer des einigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Fähigkeit der Tragödie ist diese: sie soll unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht blos lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. Und nun berufe ich mich auf einen Satz, den Ihnen Herr Moses* vorläufig demonstriren mag, wenn Sie, Ihrem eignen Gefühl zum Trotz, daran zweifeln wollen. Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes thut, thut auch dieses, oder – es thut jenes, um dieses thun zu können. Bitten Sie es dem Aristoteles ab, oder widerlegen Sie mich.
Auf gleiche Weise verfahre ich mit der Komödie. Sie soll uns zur Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen leicht wahrzunehmen. Wer diese Fertigkeit besitzt, wird in seinem Betragen alle Arten des Lächerlichen zu vermeiden suchen, und eben dadurch der wohlerzogenste und gesittetste Mensch werden. Und so ist auch die Nützlichkeit der Komödie gerettet.«

* Moses Mendelssohn, jüdischer Philosoph und enger Freund von Lessing. Er gilt als historisches Vorbild für die Figur des Nathan.


2. Seine Überlegungen zur Wirkung der Tragödie führt Lessing gut 10 Jahre später in der »Hamburgischen Dramaturgie“ fort und differenziert seine Theorie durch einen Rückgriff auf Aristoteles aus. Neben dem Aspekt des Mitleids (griechisch: Eleos) deutet er aus, was der antike Philosoph mit »Furcht“ (gr. Phobos) und »Reinigung der Leidenschaften“ (gr. Katharsis) gemeint habe, und integriert diese Begriffe in seine Wirkungsästhetik.

»Denn er, Aristoteles, ist es gewiß nicht, der die mit Recht getadelte Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines anderen, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhängt sehen, uns selbst betreffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit anderen Worten: Diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid. [...]
Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nämlich, daß das Übel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der Beschaffenheit sein müsse, daß wir es auch für uns selbst, oder für eines von den Unsrigen, zu befürchten hätten. Wo diese Furcht nicht sei, könne auch kein Mitleiden statt finden. Denn weder der, den das Unglück so tief herabgedrückt habe, daß er weiter nichts für sich zu fürchten sähe, noch der, welcher sich so vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück zustoßen könne, weder der Verzweifelnde noch der Übermütige pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erkläret daher auch das Fürchterliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fürchterlich, was, wenn es einem begegnen sollte, unser Mitleid erwecken würde: und alles das finden wir mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstünde. Nicht genug also, daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglück nicht verdiene, ob er es sich schon durch irgend eine Schwachheit zugezogen: seine gequälte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld sei für uns verloren, sei nicht vermögend, unser Mitleid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit sähen, daß uns sein Leiden auch treffen könne. Diese Möglichkeit finde ich alsdenn, und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen; kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen eben ähnlich werden könne, als wir ihm zu sein uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe.
So dachte Aristoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre Ursache begreiflich, warum er in der Erklärung der Tragödie, nächst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht eine besondere, von dem Mitleiden unabhängige Leidenschaft sei, welche bald mit bald ohne dem Mitleid, so wie das Mitleid bald mit bald ohne ihr, erregt werden könne; welches die Mißdeutung des Corneille war; sondern weil, nach seiner Erklärung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig einschließt; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken kann. (75. Stück) [...]
Sobald die Tragödie aus ist, höret unser Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurück, als die wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Übel für uns selbst schöpfen lassen. Diese nehmen wir mit; und so wie sie, als Ingrediens des Mitleids, das Mitleid reinigen helfen, so hilft sie nun auch, als eine vor sich fortdauernde Leidenschaft, sich selbst reinigen.“ (77. Stück) […]
Da nämlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als in Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend aber, nach unserm Philosophen, sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen welchem sie inne stehet: so muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muß nicht allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, sondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muß nicht allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines Unglücks befürchtet, sondern auch desjenigen, den ein jedes Unglück, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste, in Angst setzet. (78. Stück) […]
‚Furcht und Mitleid‘, sagt der Philosoph [Aristoteles], ‚läßt sich zwar durchs Gesicht erregen; es kann aber auch aus der Verknüpfung der Begebenheiten selbst entspringen, welches letztere vorzüglicher, und die Weise des bessern Dichters ist. Denn die Fabel muß so eingerichtet sein, daß sie, auch ungesehen, den, der den Verlauf ihrer Begebenheiten bloß anhört, zu Mitleid und Furcht über diese Begebenheiten bringet; so wie die Fabel des Oedips, die man nur anhören darf, um dazu gebracht zu werden. Diese Absicht aber durch das Gesicht erreichen wollen, erfordert weniger Kunst, und ist deren Sache, welche die Vorstellung des Stücks übernommen.‘
Wie entbehrlich überhaupt die theatralischen Verzierungen sind, davon will man mit den Stücken des Shakespeares eine sonderbare Erfahrung gehabt haben. Welche Stücke brauchten, wegen ihrer beständigen Unterbrechung und Veränderung des Orts, des Beistandes der Szenen und der ganzen Kunst des Dekorateurs, wohl mehr, als eben diese? Gleichwohl war eine Zeit, wo die Bühnen, auf welchen sie gespielt wurden, aus nichts bestanden, als aus einem Vorhange von schlechtem groben Zeuge, der, wenn er aufgezogen war, die bloßen blanken, höchstens mit Matten oder Tapeten behangenen Wände zeigte; da war nichts als die Einbildung, was dem Verständnisse des Zuschauers und der Ausführung des Spielers zu Hilfe kommen konnte: und demohngeachtet, sagt man, waren damals die Stücke des Shakespeares ohne alle Szenen verständlicher, als sie es hernach mit denselben gewesen sind.« (80. Stück)

Die WhiteBoxX ist ein Theater-Konzept von Schauspieler und Regisseur Tom Gerber. Es geht darum, die großen klassischen Stoffe mit kleiner Besetzung in einem Einheitsbühnenbild zu erarbeiten, um so ganz den Text und die Schauspielkunst in den Mittelpunkt zu stellen. Hierzu wurden folgende Regeln aufgestellt:  

1. Alle theatralen Vorgänge finden innerhalb der WhiteBoxX statt.

2. Im Mittelpunkt steht der der Aufführung zugrunde liegende Text und die Arbeit der Darsteller*innen mit ihm.

3. Zur szenographischen Gestaltung DARF mit jeder Form von Projektion und Licht gearbeitet werden.

4. Die Kostüme der jeweiligen Aufführung MÜSSEN der im darzustellenden Werk angelegten Zeit/Epoche entsprechen.

5. Es DÜRFEN ausschließlich Requisiten verwendet werden, die der Handlung des Stückes entsprechend vonnöten sind, keine interpretativen oder illustrativen.

6. Es KANN eine Wand pro Aufführung weg gelassen werden.

7. Es KANN ein Möbel pro Aufführung hinzugefügt werden. Dieses muss handlungsimmanent sein.

8. Ein Vorhang KANN als vierte Wand, muss aber nicht eingesetzt werden.

Fotos: Benjamin Schardt

Carl-Ludwig Weinknecht
Juliane Pempelfort
Anna Sonnenschein, Juliane Pempelfort
Anna Sonnenschein, Carl-Ludwig Weinknecht
Juliane Pempelfort
Carl-Ludwig Weinknecht, Anna Sonnenschein
Anna Sonnenschein, Carl-Ludwig Weinknecht, Juliane Pempelfort
Carl-Ludwig Weinknecht, Anna Sonnenschein
Carl-Ludwig Weinknecht
Juliane Pempelfort
Anna Sonnenschein, Juliane Pempelfort
Anna Sonnenschein, Carl-Ludwig Weinknecht, Juliane Pempelfort

 

 

 

 

 

 

 

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