Vor Sonnenaufgang

von Ewald Palmetshofer

nach Gerhart Hauptmann

Egon Krause Carl-Ludwig Weinknecht
Annemarie Krause Juliane Pempelfort
Helene Anna Lisa Grebe
Martha Isa Weiß
Thomas Hoffmann Benjamin Schardt
Alfred Loth Ulrich Rechenbach
Dr. Peter Schimmelpfennig Sebastian Muskalla

Inszenierung/Bühne/Kostüme Tom Gerber
Dramaturgie Christofer Schmidt, Alexander Olbrich
Regieassistenz Alexia Lindner, Pia Nüchterlein
Inspizienz Philip Dreher
Soufflage Svenja Dahmen

Spieldauer 2 Stunden 10 Minuten (keine Pause)
Premiere 08 JAN 2022, Schauspielhaus
Aufführungsrechte S. Fischer Verlag GmbH THEATER & MEDIEN, Frankfurt am Main

Veranstaltungstechnik David Kreuzberg (Technischer Leiter/ Beleuchtungsmeister), Claudia Kurras (stellv. Technische Leiterin/Bühnenmeisterin), Nikolaus Vögele (Beleuchtungsmeister), Fredo Helmert (Leiter der Tonabteilung), Lutz Patten (Assistent der technischen Leitung), Reinhold van Betteraey, Jens Gerhard, Markus Hermes, Ivan Hristov (Medientechnik / IT), Erhad Kovacevic, Daniel Marx, Maik Neumann, Stefan Ostermann, Katrin Otte, Lutz Schalla, Matthias Schöning, Michael Skrzypek, Til Topeit, Oliver Waldhausen, Peter Zwinger Auszubildende Nour al Hamdan, Leona Kittlaus, Malte Meuter, Tim Rettig, Elias Triebel Werkstätten Schreinerei/Schlosserei Engelbert Rieksmeier (Werkstättenleiter), Lutz Meuthen, Jorge Denis Corrales Mora, Jonas Henke, Peter Herbrand, Johannes Selzner Auszubildende Werkstätten Mitja Hennig, Justin Simon, Aaron Czirr Malsaal Sarah Durry (Leiterin Malsaal), Natalie Brüggenolte (in Elternzeit), Laura Conigliello, Dmytro Fedorovic Zhdankin, Luna Warnke, Maria Felicia Montemurro Gewandmeisterei Alide Büld (Leiterin der Kostümabteilung), Waldemar Klein (Leiter der Herrenabteilung, Herrenschneidermeister), Ute Dropalla (Garderobiere), Pauline Gez (Garderobiere), Susanne Groß, Maria Knop, Alina Listau, Anna Listau, Sophia Meuser Maske Marthe von Häring (Leiterin der Maske), Marleen Fee Hackenberg, Laura Rösch Requisite Birgit Drawer (1. Requisiteurin), Lara Maury

Insofern nicht anders markiert, sind die Texte Originalbeiträge von Alexander Olbrich.

Probenfotos Marco Piecuch Plakatfoto Simon Hegenberg

Bitte beachten Sie, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet sind.

Thomas und Martha erwarten Nachwuchs. Eigentlich ein Grund zur Freude – wären da nicht diese vielen Streitereien, die das Bild der erfolgreichen Unternehmerfamilie Krause ins Wanken bringen könnten. Als plötzlich Alfred Loth, ein Journalist und alter Studienfreund von Thomas, vor der Tür steht, gilt es Anstand zu wahren. Nicht, dass noch intime oder geschäftliche Details an die Öffent­lichkeit gelangen! Nach anfänglicher Wiedersehensfreude entspinnt sich ein vorwurfsvoller Schlagabtausch zwischen den einstigen Freunden, die mittlerweile verfeindeten politischen Lagern angehören. Der ideologische Graben zwischen ihnen scheint unüberwindbar – was läge da näher, als sich wieder aus dem Weg zu gehen? Doch Alfred bleibt und es wird noch komplizierter: Denn zwischen ihm und Marthas Schwester Helene entwickelt sich unverhofft eine starke Bindung. Was aber hat es mit Alfreds überraschendem Besuch überhaupt auf sich?

Ewald Palmetshofer
Ewald Palmetshofer ist 1978 in Linz geboren und unweit davon in ländlicher Umgebung aufgewachsen. Sein Vater arbeitete als Weichensteller bei den Linzer Stahlwerken, die Mutter ist gelernte Schneiderin. Er studierte in Wien Theologie und Lehramt  Philosophie/Psychologie. Zunächst arbeitete Palmetshofer als Betreuer von sozial benachteiligten Jugendlichen und in einem Tageszentrum für Obdachlose. Noch vor seinen Dramen und Theaterstücken verfasste er Mundarttexte, in denen er sich über die Art und Wirkung von Sprache und das Sprechen Gedanken machte. Seine Theatertexte entstanden dann ebenfalls in einer mundartlich gefärbten Kunstsprache.
Dass dabei ein besonderer Sprachrhythmus, eine Art Sprachmelodie entsteht, verfolgt er sehr bewusst, so äußerte er in diesem Zusammenhang in einem Gespräch mit Andreas Klaeui für nachtkritik.de: »Die Musik, die in der Sprache liegt, soll auf einer unterschwelligen Ebene weitererzählen, was nicht gesagt werden kann«. Palmetshofers Themen sind die Orientierungslosigkeit der Mittdreißiger, familiäre Katastrophen und die Paradoxien seiner Generation, was sich auch in seinen kuriosen Titeln erkennen lasse. Er mache sich »an die Durchdenkarbeit auf dem offenen Feld der ganz großen Fragen«, schrieb die tageszeitung (6.1.2009) und schildere seine Figuren als welche, die endlich rauswollten »aus dieser emotionalen, analogen Umlaufbahn um mich selber«. Der Autor und Dramaturg wurde 2008 zum Nachwuchsdramatiker des Jahres ernannt. Nach mehrmaligen Nominierungen gewann sein Stück »die unverheiratete« 2015 den renommierten Mühlheimer Dramatikerpreis. 2017 wurde »Vor Sonnenaufgang« am Theater Basel uraufgeführt und seitdem an mehr als zwanzig Häusern nachgespielt. Seit der Spielzeit 2019/20 arbeitet Palmetshofer auch als Dramaturg am Residenztheater München.

Gerhart Hauptmann
Der Schriftsteller und Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann wurde 1862 in Schlesien als viertes Kind des Hotelwirts Robert und seiner Frau Marie Hauptmann geboren. Nach einer landwirtschaftlichen Ausbildung bei seinem Onkel, die er aus gesundheitlichen Gründen abbrechen musste, wollte Hauptmann Bildhauer werden. Er besuchte die Kunstschulen in Breslau und Dresden, hörte aber auch Vorlesungen zu Philosophie, Naturwissenschaften und Geschichte in Jena und Berlin und nahm Schauspielunterricht. Mit 23 Jahren heiratete er Marie Thienemann, eine reiche Dresdener Kaufmannstochter. Diese Heirat ermöglichte ihm finanzielle Sicherheit, um sich eine Existenz als freier Schriftsteller aufzubauen. 1889 erregte er durch die skandalbegleitete Uraufführung seines ersten Dramas »Vor Sonnenaufgang« am Berliner Lessingtheater Aufsehen; mit seinem Drama »Die Weber«, einer Sozialanklage, löste er auf Otto Brahms »Freier Bühne« in Berlin 1882 ein Beben aus. Seine opportunistisch geprägte Grundhaltung ließ ihn in vier Staatsgefügen – dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und dem Nachkriegsdeutschland – relativ unbehelligt leben. Er war anerkannt, wurde verehrt und gespielt. Bald galt er als einer der bedeutendsten deutschen Dramatiker und wichtigster Vertreter des naturalistischen Dramas an der Schwelle des 20. Jahrhunderts. 1912 wurde Hauptmann mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt, viele andere Preise folgten. Gerhart Hauptmann starb im Jahre 1946 im schlesischen Agnieszków.

Ewald Palmetshofer. Foto: Priska Ketterer
Gerhart Hauptmann

von Christofer Schmidt

Hauptmanns Version (1889)
Gerhart Hauptmanns Version von »Vor Sonnenaufgang« löste einen regelrechten Theaterskandal aus und verhalf dem Naturalismus auf deutschsprachigen Bühnen zum Durchbruch. Anstoßerregend war für das damalige Publikum die Verwen­dung von schlesischem Dialekt auf der Bühne. In der teils obszönen Sprach­verwendung offenbarte sich das Herkunftsmilieu von Familie Krause und ihren Hausangestellten. Lediglich Thomas Hoffmann, Alfred Loth und Helene Krause sprachen ohne Dialekt und verkörperten eine höhere soziale Sphäre. Wirklich provoziert hatte aber vor allem der Inhalt des Stücks, wie der Germanist Siegfried Grosse schreibt: »[…]der in den Alkoholismus führende Kapitalismus, der eine neureich gewordene Bauernfamilie bis ins letzte Glied zugrunde richtet, und die sozialkritischen und progressiven Ideen und Thesen, die Loth dieser Entwicklung entgegenstellt.« Dazu ist es wichtig zu wissen, dass das da­mals bestehende Sozialistengesetz es verbot, sozialdemokratische Ideen vor größeren Gruppen in Umlauf zu brin­gen. Hauptmann entging der behörd­lichen Zensur, indem er das Stück im privat organisierten Verein der Freien Bühne Berlin zur Aufführung brachte, wo nur Mitglieder eine Aufführung erleben durften. Legendär wurde die Premiere zudem durch die Aktion des Gynä­kologen Isidor Kastan, der während der Vorstellung eine Geburtszange hochhielt und in Bezug auf Marthas Schwangerschaft herablassend seine Dienste anbot.

Palmetshofers Version (2017)
Weniger skandalträchtig, dafür aber umso aktueller erscheint »Vor Sonnenaufgang« in der Überschrei­bung des preisgekrönten Dramatikers Ewald Palmetshofer. Er überträgt die Geschichte in unsere Gegenwart und setzt dabei neue Akzente. Die Grund-konstellation zwischen Familie Krause und Alfred Loth wird zwar beibehalten, allerdings reduziert er das Figurenensemble von ursprüng­lich neunzehn auf lediglich sieben Personen. Dadurch rückt er die zwi­schenmenschlichen Beziehungen, die Erwartungen, Ängste und Sehnsüchte der einzelnen Charaktere in den Vor­dergrund. Außerdem lässt er die Figur Martha aktiv in Erscheinung treten und gibt ihr eine Stimme, die sie in Hauptmanns Version nicht hatte. Die Entschiedenheit, mit der Loth seine sozialreformerischen Thesen vorträgt, weicht einem verunsicher­ten, fragenden Loth bei Palmetshofer. Einem Philosophen gleich versucht dieser im Gespräch mit Hoffmann das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft zu begreifen, ohne dass dabei eine politische Richtung – links oder rechts – favorisiert wird. Das Progressive dieser Neuschreibung kommt hier am deutlichsten zutage: der Versuch, einander zu verstehen, anstatt Fronten zu verhärten.


Lieber Tom, was interessiert dich an diesem Stück? 

Dem Stück sind die Konflikte unserer gegenwärtigen Gesellschaft in die Buchstaben geschrieben. Wir leben in einer Gesellschaft von Egoisten, deren Interessengruppen immer weiter auseinander driften. Der Bruch zwischen den politischen Meinungslagern wird schärfer und gröber und der gute Wille, dem anderen mit Respekt zuzuhören dagegen immer weniger.

Wie ist das im Stück für dich? Hören sich die Figuren zu?

Sie hören sich noch, weil sie Freunde sind. Sie können auf eine tiefere Bindung zurückgreifen, weil sie zusammen gewohnt und studiert haben. Dabei ist so etwas entstanden wie eine Freundschaft im antiken Sinn, die sehr stark vom Denken getragen ist und zugleich das Sexuelle nicht ausschließt. Man teilt Ideen, streitet darüber auch leidenschaftlich und geht miteinander ins Bett. Das passt später natürlich überhaupt nicht mehr in die Biografie von Thomas, dem Firmenchef, dem Rechtspopulisten, und auch nicht in die seines linken Gegenparts Alfred. Denn auch heute, wenn du sagst, du hattest ne Geschichte mit nem Typen, kommst du in eine »schwule Ecke«. Du stellst dich sozusagen auf den Gipfel eines Berges ohne Baumbestand und sagst: Schmeißt Scheißebeutel nach mir! Dieses intime Geheimnis nicht zu verraten, ist beiderseits also eine Art Freundschaftsbeweis, der es möglich macht, die Mauern zu überwinden, die sie vor sich aufgebaut haben. Beide teilen die Analyse, dass es in der Gesellschaft einen Spalt gibt, über den nichts drüber führt, gehen damit aber gegensätzlich um. Während Thomas sich sozusagen aufs Heck der Titanic stellt, um zu überleben, fragt Alfred unaufhörlich danach, warum wir untergehen.  

Warum inszenierst du nicht das Original? Was zeichnet Palmetshofers Überschreibung im Unterschied zur Vorlage von Hauptmann aus?

Die Sprache natürlich und die gesellschaftliche Relevanz. Es sind bei Palmetshofer Figuren von heute. Das Prekariat ragt bis in die Bildungsschicht, ins kulturelle Milieu hinein. Die jüngere Schwester Helene hat den Durchbruch als Künstlerin nicht geschafft und muss wieder zu Hause wohnen. Die Firma, ehemals ein Handwerksbetrieb, hat sich professionalisiert und globalisiert, damit wurden aber auch die Arbeitsverhältnisse entfremdet. Im Stück geht es also auch um den Drift der Kapitalwirtschaft weg von der richtigen Wirtschaft, was für mich auch das Kreuz ist, unter dem wir alle zu ächzen haben.

Du hast auch die Ausstattung gemacht. Welche Grundidee steht hinter Bühnen- und Kostümbild?

Was die Bühne angeht, folge ich dem Stück. Es ist wie so ein Wintergarten mit Baustelle für den Anbau neben dran. Der zentrale Handlungsort ist wie eine Bushaltestelle, ein Verkehrsknotenpunkt, an dem man zwar bleiben kann, aber es ist sehr unwirtlich. Da die Familie in den 80er Jahren zu Geld gekommen ist, hat sie den ersten Wohlstand in ein Haus mit Sichtbetonfassade investiert. Was nun auch den Anbau schwierig macht. Der geht nur mit dem Einsatz von Presslufthämmern, der dann das Familienfrühstück regelmäßig stört. Wer schon mal wie ich neben einer Baustelle gewohnt hat, weiß was für ein Terror das ist. Es ging also um einen möglichst unwirtlichen Raum im Zuhause.  

Und wie verhält es sich mit den Kostümen? Hier machst du ja eine deutliche Setzung.

Ja genau. Ich gehe da in ein historisches Bild. Ich habe ein Faible dafür, Gegenwartsstoffe über die Historie zu lesen und suche mir Zeiten, wo es ähnliche Krisen schon mal gegeben hat. Ich nehme es aber auch nicht zu Ernst, sondern verstehe es eher wie eine Mottoparty. Die barocken Frisuren & Kostüme drücken außerdem den Wohlstand der Familie aus. Ein weiteres Zitat mach ich auf »Interview mit einem Vampir« von Anne Rice, weil mich der Gedanke, Vampirismus als Allegorie für Kapitalismus zu verstehen, interessiert hat. Das passt auch ganz gut, weil das Stück quasi durchgehend in der Nacht bzw. in der Dämmerung spielt. Man könnte also denken, dass in dieser Welt alle schon längst zu Vampiren geworden sind…

Palmetshofer hat für seine Überschreibung eine musikalisch-rhythmische Sprachform gewählt. Was macht diese so besonders und wie seid ihr damit umgegangen?

Er seziert die Sprache, warum sich jemand wie ausdrückt – das Zweifeln einer Figur etwa – und arbeitet mit einer ausgefeilten Pausentechnik. Ich bin auch letztlich auf die Barockkostüme gekommen, weil der Ton Barock ist. Der Ton erinnert eher an eine Oper. Das aber dann opernhaft spielen zu lassen, interessiert mich nicht. Sondern dann geht es darum in dieser künstlichen Sprache wieder den direkten Ton zu finden – das ist die Arbeit.

Was die Musik in der Inszenierung betrifft: Bist du eigentlich Rammstein-Fan?

Ja. Nein. Ich habe das ein oder andere T-shirt, gehe aber nicht auf Konzerte. Sie sind eine zutiefst teutonische Band, haben aber Humor und da treffen sie sich gut mit Palmetshofer. Es gibt Bands, die du nur laut hören kannst, und Rammstein gehört für mich dazu. Und die Welt ist gerade extrem laut und das beschreiben sie gut. Einen Ort zu finden, an dem man mit anderen Leuten eine Ruhe in sich finden kann, ist schier unmöglich. Über die Band Apocalyptica habe ich dann außerdem eine Brücke zurück zum Barock und zu Bach gefunden, der für mich wie ein Rock’n‘Roller seiner Zeit war, weil das Drängende seiner Musik die Leute schockiert hat. So konnte ich diese unterschiedlichen Musikstile gut miteinander verheiraten.

Danke dir für das anregende Gespräch!

Das Interview mit Tom Gerber führte Dramaturg Alexander Olbrich am 21. Dezember 2021 im Herzstück des RLT.

Fotos: Marco Piecuch

Sebastian Muskalla
Carl-Ludwig Weinknecht
Juliane Pempelfort, Benjamin Schardt
Juliane Pempelfort, Benjamin Schardt, Anna Lisa Grebe
Ulrich Rechenbach, Benjamin Schardt
Benjamin Schardt, Isa Weiß
Juliane Pempelfort, Anna Lisa Grebe
Anna Lisa Grebe, Benjamin Schardt, Juliane Pempelfort, Isa Weiß, Carl-Ludwig Weinknecht, Ulrich Rechenbach, Sebastian Muskalla

 

 

 

 

 

 

 

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